Balloff, Kinder vor dem Familiengericht, 2. Auflage, Nomos 2014
Von RiAG Dr. Torsten Obermann, Münster / Lüdinghausen
Im Familiengericht prallen regelmäßig Welten aufeinander. Dies betrifft nicht nur die zerstrittenen Partner, die auf das Scheitern von Beziehungen jeweils ihre eigene Sichtweise haben. Vielmehr sitzen dort den beteiligten Juristen regelmäßig auch Pädagogen und Psychologen, z.T. darüber hinaus auch Mediziner verschiedener Rechtsgebiete, Sozialarbeiter und andere, jeweils mit ihrer eigenen Sprache, ihrer eigenen Ausbildung und dadurch bedingt auch eigenen Wertevorstellungen gegenüber. Da weder für Anwälte bei Übernahme familienrechtlicher Mandate noch für Richter vor Bearbeitung eines familienrechtlichen Dezernats Fortbildungen auch nur hinsichtlich der Grundbegriffe der anderen Professionen verbindlich sind und diese auch im ohnehin fordernden Pflichtfachstoff der Ausbildung keine Rolle spielen, sind auch beim besten Willen auf allen Seiten Kommunikationsprobleme vorprogrammiert. Dies beginnt schon im Grundsätzlichen: Juristen, die von der Ausbildung her auf die abschließende Feststellung und Beurteilung von vergangenen Sachverhalten her ausgerichtet sind, fällt es schwer, sich und ihre Arbeit als Teil eines fortdauernden Prozesses zu sehen, wie dies die dynamische Entwicklung von Kindern aber zwingend erfordert. Andererseits muss bei Angehörigen der anderen Berufsgruppen mitunter Verständnis dafür geweckt werden, dass auch als lästig und kleinkariert empfundene (Verfahrens-)Vorschriften zur Sicherung des Rechtsfriedens erforderlich sein können und daher Beachtung erfordern.
Sind nicht alle Beteiligten bereit, hier Zeit in eine konstruktive Kooperation zu investieren, geht dies insbesondere zu Lasten der an den Verfahren beteiligten Kinder. Kann von den Eltern trotz der Belastung durch die Trennungssituation noch weitgehend erwartet werden, dass sie ihre Interessen selbst angemessen vertreten, fehlen den Kindern die hierfür notwendigen Ressourcen. Dies wird durch die vorangegangene Belastung durch die Konflikte zwischen den Eltern, die Trennung oder auch durch eine unzureichende Versorgung im elterlichen Haushalt noch verstärkt. In allen diesen Fällen sind auch die Eltern oft wenig in der Lage, die Kinder im gerichtlichen Verfahren zu stärken und zu schützen. Umso mehr sind Kinder auf Unterstützung und Schutz durch die Professionellen angewiesen, was wiederum eine Kooperation zwischen den Professionen voraussetzt.
Das vorliegende, aktuell in der zweiten Auflage erschienene Buch stellt ein Angebot an alle an Familienverfahren beteiligten Professionellen dar, sich mit der Sichtweise der jeweils anderen vertraut zu machen. Auf knapp 500 Seiten nähert sich der Autor hier der Thematik sowohl von rechtlicher als auch von pädagogischer und psychologischer Seite. Dies geschieht durchweg auf der Grundlage hervorragender Fachkunde. Hierfür bürgt der Autor, der nicht nur sowohl Jura als auch Psychologie studiert hat, sondern auch über eine langjährige Erfahrung im Bereich forensisch-psychologischer Gutachten und damit an der Schnittstelle der Professionen verfügt.
Das Werk ist damit eine einmalige Gelegenheit, nicht nur die fremde Terminologie der anderen Berufszweige zu verstehen, sondern auch deren Arbeitsweise, Zielsetzungen und Wertesysteme. Es stützt sich durchweg auf die neuesten statistischen Erhebungen und berücksichtigt den aktuellen Stand der Diskussion in allen betroffenen Wissenschaften. Schon dies macht den Kauf des Werkes zu einer lohnenden Anschaffung.
Inhaltlich ist das Buch entsprechend der forensischen Realität in zwei große Blöcke geteilt: Kindschaft in Trennung und Scheidung einerseits und Fremdplatzierung des Kindes andererseits.
Innerhalb des ersten Blockes werden zunächst Trennung und Scheidung sozialwissenschaftlich und rechtlich eingeordnet. Danach wird der Blick zunächst auf die Trennungsfamilie einschließlich der Bedeutung von vermittelndem Vorgehen im Rahmen der Trennung gewendet. Sodann werden die Fragen von Sorgerecht und Umgang erörtert. Hierbei wird speziell das Kind im System der Trennungsfamilie untersucht. Für den Praktiker besonders dankbar sind hier die umfassenden Ausführungen zu den aktuell besonders relevanten Problemen des Wechselmodells und der hochkonflikthaften Eltern. Auch internationale Abkommen werden rechtlich dargestellt und auf die psychologische Relevanz der von ihnen betroffenen Fälle hin untersucht. Ein weiteres Kapitel betrifft das Verhältnis des Kindes zu anderen Beteiligten, nämlich zunächst Verfahrensbeistand, Jugendamt und Sachverständigen. Später werden dann auch die Rollen von Geschwistern, Anwälten der Eltern und vor allem des Gerichts untersucht. Hierbei wird zunächst theoretisch und dann an einem Fallbeispiel insbesondere die Kindesanhörung in den Mittelpunkt gerückt. Dem Richter werden in diesem Rahmen wertvolle Ratschläge aus psychologischer und pädagogischer Sicht gegeben. Wichtige Exkurse betreffen z.B. die Bindungslehre, den Kindeswillen und Fragen der Beschneidung, die Familienrichter und Anwälte häufig vor erhebliche Herausforderungen stellen.
Der zweite große Block des Werkes ist der Fremdunterbringung von Kindern gewidmet. Nach meiner Meinung etwas inkonsequent wird hier auch die Adoption behandelt, die wohl eine Sonderstellung einnimmt. Relevant aber ist: Es werden nicht nur die Voraussetzungen einer Fremdunterbringung umfassend erörtert – allein die Ausführungen zu sexuellem Missbrauch umfassen mehr als 20 Seiten und nehmen insbesondere zur forensisch hochrelevanten Frage der Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Kindesaussagen ausführlich Stellung – sondern auch die Modelle der Fremdunterbringung in Pflegefamilien und Heim nebst Chancen und Gefahren ausführlich vorgestellt. Selbstverständlich nimmt auch die Rückführungsproblematik einen breiten Raum ein.
Der Text ist übersichtlich gegliedert und wird durch Beispiele, Schaubilder und Listenelemente aufgelockert. Für den Juristen gewöhnungsbedürftig ist die eher den Sozialwissenschaften entnommene Sprache und Zitierweise, die aber angesichts der interdisziplinären Ausrichtung des Werkes konsequent ist. Regelmäßig wird zu jedem diskutierten Gebiet zunächst der rechtliche Rahmen abgesteckt und der Aspekt sodann unter sämtlichen relevanten wissenschaftlichen Gesichtspunkten umfassend erörtert. Dabei verliert das Werk nie das Wohl und die Rechte des Kindes als maßgebliches Ziel aller familienrechtlichen Auseinandersetzungen um Kinder aus den Augen.
Dem Werk gelingt der Wandel zwischen den Welten. Es bringt den juristischen Praktikern die Sichtweise der anderen Professionen nahe, weckt aber bei diesen auch Verständnis für die Berechtigung der rechtlichen Sichtweise. Es stellt daher einen wichtigen Beitrag bei dem Versuch der am Familienverfahren Beteiligten dar, eine gemeinsame Sprache zum Wohle des Kindes zu finden. Und es erinnert alle Professionellen immer wieder daran, dass sie ihr Handeln an diesem Aspekt auszurichten haben. Für jeden, der seine Rolle im Familienverfahren ernst nimmt, ist das Buch eine unbedingte Empfehlung!