Watzenberg, Der homo oeconomicus und seine Vorurteile: Eine Analyse des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots, De Gruyter 2014
Von Ref. jur. Arian Nazari-Khanachayi, LL.M. Eur., Frankfurt am Main
Die ökonomische Theorie des Rechts, eher als ökonomische Analyse des Rechts bekannt (vgl. zur terminologischen Differenzierung Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, 1997, S. 5 f.), erfreut sich unter deutschen (Nachwuchs-)Wissenschaftlern seit Jahren zunehmender Beliebtheit. Dabei ist dieses methodologische Instrumentarium insbesondere dafür geeignet, rechtliche Institutionen oder Regeln im Hinblick auf Ihre Folgen zu untersuchen (näher zum Ganzen Nazari-Khanachayi, Rezension von Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts). Insbesondere verspricht sie, für „neuerliche“ Rechtsinstitute ein hervorragendes Analyseinstrument darzubieten, fehlen doch in diesen Bereichen langjährige Erfahrungen aus Rechtsprechung und beratender Rechtsanwendung, um gegebenenfalls das Erreichen gesetzgeberischer Zielsetzungen beurteilen oder vorhersagen zu können. Als ein solch „neuerliches“ Rechtsinstitut kann das AGG bezeichnet werden, welches in Umsetzung von sekundärrechtlichen Vorgaben (scil. RL 2000/43/EG, RL 2000/78/EG, RL 2002/73/EG und RL 2004/113/EG) erlassen und am 18.08.2006 in Kraft getreten ist. Frau Dr.Anja Watzenberg hat mit Ihrer Untersuchung zum Thema „Der homo oeconomicus und seine Vorurteile“ eine umfangreiche Analyse des AGG vorgelegt, die von Herrn Prof. Dr. iur. Dr. phil. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley) betreut und im Jahre 2013 an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen wurde.
Watzenbergbeschäftigt sich in ihrer Arbeit, die in der Verlagsschriftenreihe zum Europäischen und Internationalen Privat-, Bank- und Wirtschaftsrecht erschienen ist, auf 378 Seiten sowohl mit den positiven und normativen Grundlagen des von ihr gewählten Analyseinstrumentariums als auch mit der Ausgestaltung des AGG und die Anwendbarkeit der methodologischen Erkenntnisse auf diesen Regelungsbereich.
Im ersten Teil (S. 13–120) liefert die Autorin eine Bestandsaufnahme der Grundlagen der ihrer Untersuchung zugrundeliegenden Methoden. Ausgehend von einer Durchleuchtung der Neoklassik über eine Darstellung der Neuen Institutionenökonomik gelangt die Verfasserin, nach einem Einschub über die ökonomische Analyse des Vertragsrechts, zu den Grundlagen der Verhaltenspsychologie. Wenngleich Watzenbergin diesem ersten Teil vornehmlich deskriptiv arbeitet, hält sie dennoch fest, dass sowohl das AGG als auch die damit zu regelnden Entscheidungs- und Verhaltensregeln jeweils formale Institutionen darstellen, folglich das Benachteiligungsverbot sich in diesem „institutionellen Spannungsverhältnis“ befindet.
Im zweiten Teil der Untersuchung (S. 121–217) widmet sich die Verfasserin ihrem „Untersuchungsgegenstand“. Watzenbergstellt hierbei die einzelnen Abschnitte des AGG vor, wobei sie insbesondere die europarechtlichen Vorgaben in den Blick nimmt. Daher versucht sie stets, die unbestimmten Rechtsbegriffe dieses Regelungskomplexes einer richtlinienkonformen Auslegung zuzuführen, was besonders begrüßenswert ist. Hervorzuheben ist ihre dezidierte und zugleich kritisch differenzierende Darstellung der für das AGG zentralen Diskriminierungsmerkmale des § 1 AGG, namentlich die Rasse, die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Religion oder die Weltanschauung, die Behinderung, das Alter und schließlich die sexuelle Identität. Daneben stellt die Verfasserin in diesem Teil ihrer Arbeit sowohl die unterschiedlichen Anwendungsgebiete des AGG als auch die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das AGG vor.
Sodann gelangt Watzenberg zum Hauptteil ihrer Untersuchung: Ab Seite 221 (!) wendet die Verfasserin die im ersten Teil vorgestellten ökonomischen (positiven) Grundlegungen auf die unterschiedlichen Teilbereiche des AGG an (daher auch die Überschrift dieses Teils: „Die Anwendung“). Hierbei untersucht die Verfasserin die einzelnen Teilaspekte des AGG im Lichte der jeweiligen Methoden (scil. Neoklassik, Neue Institutionenökonomik und Verhaltenspsychologie). Hervorzuheben sind aus diesem Bereich einerseits die unterschiedlichen Ergebnisse der Anwendung der jeweiligen Analyseinstrumente: Während etwa die sexuelle Belästigung mittels neoklassischer Betrachtung nicht zwingend als irrational und ineffizient beurteilt werden könne, hat die Neue Institutionenökonomik keine Schwierigkeiten, die Irrationalität und Ineffizienz sexueller Belästigungen festzustellen. Vor diesem Hintergrund und aus der psychologischen Perspektive befürwortet die Verfasserin überzeugend ein differenziertes Verbot der sexuellen Belästigung. Daneben werden aus psychologischer Perspektive, im Gegensatz zur neoklassischen Sichtweise, erzwungene Vertragsschlüsse als begrüßenswert bewertet, weil hierdurch herbeigeführte positive Erfahrungen zum Abbau von Vorurteilen und Stereotypen führen könnten. Eine Gemeinsamkeit aller Analyseergebnisse ist andererseits ebenfalls hervorzuheben: Watzenberg illustriert das bestehende strukturelle Ungleichgewicht zwischen Benachteiligendem und Benachteiligte und plädiert daher überzeugend für die Einführung eines Verbandsklagerechts.
Die ersten drei Teile der Untersuchung von Watzenberg bringen bereits einige neue Erkenntnisse ans Licht, die sowohl bei der Rechtsanwendung als auch bei der Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber hilfreich sein können. Gleichwohl hätte ein dynamischer Aufbau die Lesefreundlichkeit der Arbeit erhöht: So wäre es wünschenswert gewesen, wenn die ersten zwei Teile in „die Anwendung“ integriert worden wären. Auf diese Weise hätte die Verfasserin Wiederholungen vermeiden und zugleich dem Leser das Nachschlagen einzelner Aspekte ersparen können.
Im letzten Teil der Untersuchung beschäftigt sich die Verfasserin sodann mit der normativen Analyse der Ökonomik. Im Gegensatz zur positiven Analyse, die vornehmlich die tatsächlichen Grundlagen des ökonomischen Handelns durchleuchtet (sei es nun anhand von Modellen oder empirischen Untersuchungen), fragt die normative Analyse nach den Grundlagen für die Bewertung von Handlungen. Angesprochen ist etwa der Utilitarismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen als handlungsethische Grundannahme der Ökonomik. Hervorzuheben sind aus diesem Teil der Untersuchung die von Watzenbergdargestellten und für die ökonomische Theorie des Rechts besonders relevanten Aspekte. So zeigt sie die für die rechtliche Bewertung relevanten Schwächen der normativen Analyse der Ökonomik auf: Die Betrachtung der Folgen einer Regelung für die gesamte Gesellschaft lasse die Interessen des Individuums außen vor (dies ist die Stärke der deontologischen Handlungsethiken), sodass bestimmte Formen des Utilitarismus (scil. Handlungsutilitarismus) sogar Gesellschaftsformen rechtfertigen könnten, die nach den heutigen Menschenrechtsvorstellungen unerwünscht sind (etwa eine, die die Sklaverei mit positiven Folgen für die Wohlfahrt unterhält). Differenziert fährt Watzenberg mit ihren Ausführungen fort und stellt die Gerechtigkeitstheorie Rawls‘und die Theorie der Reichtumsmaximierung von R. Posner vor. Obgleich die Verfasserin bei ihren Schlussfolgerungen stets die grundsätzliche Trennung zwischen Sein und Sollen beachtet und auf diese Weise normative Fehlschlüsse vermeidet, gelangt sie erfreulicherweise zu der zustimmungswürdigen Schlussfolgerung, die Erkenntnisse der ökonomischen Analyse des Rechts dürften zwar keinen methodologischen Vorrang beanspruchen, immerhin müssten sie jedoch im Rahmen der teleologischen Auslegung berücksichtigt werden (ebenfalls für eine solch zustimmungswürdige Annahme bezüglich der Empirie in den Rechtswissenschaften insgesamt Petersen, Der Staat 49 [2010], 435 ff.; a.A. Augsberg, Der Staat 51 [2012], 117 ff.). Hieraus leitet die Autorin sodann die grundsätzliche Frage ab, ob das Benachteiligungsverbot Freiheiten einschränkt oder eher bewahrt. Die Frage wird vor dem Hintergrund der Dibiasing-Diskussion und im Lichte der unterschiedlichen Paternalismus-Ansätze, vornehmlich dem liberalen Paternalismus, einer differenzierten Antwort zugeführt. Festzuhalten ist insbesondere ihre zustimmungswürdige Einschätzung, dass Eingriffe in den menschlichen Entscheidungsprozess zwecks Dibiasing nicht zu beanstanden seien, sofern sie mit dem „(Gesetzes-) Zweck“ übereinstimmen und heuristische Fehlentscheidungen des Einzelnen vermeiden, folglich gerade zu mehr Freiheit beitragen.
Insgesamt ist die von Watzenberg vorgelegte Dissertation eine schöne Untersuchung mit weitreichenden Einsichten. Insbesondere das von Watzenberg vorgeschlagene Verbandsklagerecht ist im Lichte der sich in der Wissenschaft herauskristallisierenden Diskussion mit Bezug auf die private Normdurchsetzung weiterführend. Denn auch die von Watzenberg vorgeschlagene Verbandsklage zwecks Herstellung der Waffengleichheit wäre in letzter Konsequenz in der Lage, die Durchsetzung von subjektiven Rechten einer Institution zu überlassen, die so die objektive Einhaltung von Rechts- und/oder Normvorstellungen durchsetzen sollte (grundlegend zu diesem Diskussionskreis Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, passim). Auch die Arbeit von Watzenberg zeigt also die Notwendigkeit, die Norm- und/oder Rechtsdurchsetzung durch private Institutionen in den unterschiedlichen Bereichen des privaten Wirtschaftsrechts näher untersuchen und gegebenenfalls einen inneren Zusammenhang dieser Teilbereiche herausarbeiten zu müssen. Denn hieraus ließen sich konzeptionelle Erkenntnisse für das gesamte private Wirtschaftsrecht ableiten.