Artkämper, Die „gestörte“ Hauptverhandlung, 6. Auflage, Gieseking 2022
Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl
Das Buch von Artkämper, inzwischen unter Mitarbeit seines Sohnes und RinLG Weise, ist schon fast ein Klassiker der Strafrechtsliteratur – immerhin erscheint bereits die 6. Auflage. Der Titel ist (weiterhin) einigermaßen provokant, denn die „Störung“ der Hauptverhandlung wird ja naturgemäß eher beim Angeklagten und beim Verteidiger verortet. Dass dem nicht zwingend so ist, wurde schon in Besprechungen zu früheren Auflagen herausgearbeitet (Besprechung von RA Berg hier), sodass hier nicht noch einmal im Detail aufgerollt werden muss, dass sich das Gericht und die Staatsanwaltschaft so mancher „Störung“ schlicht dadurch entledigen könnten, dass das Verfahrensrecht richtig angewendet wird. Auf den letztgenannten Aspekt weist außerdem richtigerweise auch das Autorenteam schon im Vorwort hin. Zudem befasst sich das Buch auch konsequent mit den staatlichen Verfahrensbeteiligten als „Störern“, sodass der mögliche Vorwurf einer eventuellen Einseitigkeit nicht begründet wäre.
Das Augenmerk dieser Besprechung soll eher auf der Lesbarkeit und Praktikabilität des Werks liegen, gerade wenn man die Frage in den Raum stellt, ob auch Berufsanfänger und wenn ja in welcher Instanz von diesem Buch profitieren können. Denn Ziel des Buches ist ja gerade, die Situationen zu porträtieren und einer Lösung zuzuführen, die in Studium und Referendariat nicht zur Sprache kommen. Dies ist zugegebenermaßen noch keine wirkliche Neuerung, denn jeder Praktiker weiß nach kurzer Zeit, wie praxisfern die deutsche Juristenausbildung doch immer noch ist. Doch die richtige Einordnung von Besonderheiten in das prozessuale Gefüge geht noch einmal einen Schritt weiter als herkömmliche Bücher zum Strafverfahrensrecht, den auch der erfahrene Jurist immer wieder einmal aufs Neue gehen kann, um für möglichst viele denkbare Vorkommnisse gewappnet zu sein.
Inzwischen ist die Zahl der kleinen Fälle, anhand derer die zusammengetragene Materie erläutert wird, auf 813 gestiegen. Ob man jedoch wirklich schon eingangs ein wenig zu reißerisch für meinen Geschmack von „dysfunktionalen Verhaltensweisen“ und „Eskapaden“ sprechen muss, bleibt dem Geschmack jedes einzelnen Lesers überlassen. Mein Eindruck ist jedenfalls, dass das Buch solche Schlagzeilen gar nicht nötig hätte: der Inhalt spricht doch eigentlich für sich, auch ohne wortgewaltige Kategorien.
Was wird geboten? Zunächst einmal eine Einführung in problematische prozessuale Konstellationen, die von allen Seiten ausgelöst werden können: u.a. vom Konfliktverteidiger, vom Konfliktstaatsanwalt und auch vom Konfliktrichter. Hiernach folgt eine Klärung von Begrifflichkeiten, damit man nachvollziehen kann, was das Buch etwa unter „Klamaukverteidigung“ versteht oder welche Variationen von Anträgen im Zusammenhang mit dem Beweisrecht denkbar sind. Weitere Kapitel befassen sich mit Anstandsregeln und der Würde des Gerichts, mit ungebührlichem Verhalten, mit denkbaren emotionalen Reaktionen auf Störungen und mit prozessualen Antworten auf (vermeintliche und echte) Störungen. Dabei werden auch schon coronabedingte Anordnungen in die Überlegungen mit einbezogen (S. 141, S. 285 u.v.m.). Störungen werden zudem nach der potentiellen Quelle geordnet (Angeklagter, Verteidiger etc.), aber auch nach der Art, etwa durch die äußere Erscheinung oder Kleidung. Sodann folgen denkbare Konfliktsituationen in den verschiedenen Verfahrensabschnitten, wobei der Hauptverhandlung denknotwenig der größte Raum zugestanden wird. Weitere Abschnitte behandeln die Verständigung, die Nebenklage sowie die Kommunikation im Strafverfahren.
Beigefügt ist ein Musterverzeichnis, das auch mit einem Online-Zugriff abgerufen werden kann. Positiv auffällig ist die angenehme optische Gestaltung des Werks, das Hervorhebungen, Schaubilder, Binnenverweise und Handlungsschemata beinhaltet. Ebenfalls positiv hervorzuheben ist die Orientierungsmöglichkeit an schwarz abgehobenen Stichworten am Seitenrand zum schnellen Blättern und Suchen.
Die Ausführungen selbst stellen eine Mischung aus Lehrbuch, Handbuch und Unterhaltungslektüre dar. An manchen Stellen erscheinen mir – wie im Vorwort – die Aufmachungen zu einem Problem zu reißerisch, die Ansatzpunkte zu oberflächlich, um wirklich Gewinn aus einer angesprochenen Konstellation ziehen zu können (bspw. Rn. 1112 ff. aggressive Verteidigung gegenüber Polizeibeamten: hier werden Begriffe eingeführt, aber nicht erklärt („Sieben-Sekunden-Trick“), die suggestive Befragung von Zeugen dürfte bei Polizisten wohl eher nicht relevant sein und auch die Fallbeispiele harmonieren nicht mit den rundum stehenden Ausführungen). Demgegenüber stehen an vielen Stellen sehr weitgehende Ausführungen, die lesenswert und lehrreich sind, sodass viele Facetten einer Thematik auch in ihrer Gewichtung und Wertigkeit erfasst werden können (z.B. Befangenheit wegen persönlicher Beziehungen, Rn. 965 ff.). Zudem wird in zahlreichen Fällen auch ganz konkrete praktische Hilfe dargeboten, um einer störenden Situation Herr zu werden (z.B. Störungen im Zuschauerraum mit Ordnungsmaßnahmen und Protokollierungshinweisen, Rn. 326 ff.). Anderenorts wurde ich bei der Lektüre nicht so recht schlau, ob es sich um eine Handlungsempfehlung oder nur um ein theoretisches Räsonieren der Autoren handelt. Man bekommt als Leser also eine bunte Mischung.
Was bietet das Buch als Mehrwert für Leser und vor allem Berufsanfänger? Meiner Ansicht nach eine ganze Menge an Vorteilen. Zum ersten ist es eine kritische und teilweise herausfordernde Auseinandersetzung mit den Verfahrensbeteiligten und deren möglicher Interpretation ihrer jeweiligen Rollen. Schon diese reflektierende Beobachtung kann zu Erkenntnis über eigenes erlebtes Verhalten führen. Des Weiteren werden tatsächliche Vorkommnisse prozessual eingeordnet und mögliche Reaktionen nach Zulässigkeit und Belastbarkeit erörtert. Auch dies ist von unschätzbarem Vorteil für Rechtsanwender, die eben noch nicht so viele Prozesse geführt haben: nach der Lektüre dieses Buches kann man von einigen Dingen nicht mehr überrumpelt werden. Dann ist es ebenfalls von Bedeutung, dass eine wertende Einordnung bestimmten Verhaltens erfolgt. Dieser Wertung kann man sich anschließen, muss es aber nicht. Aber den Mut zur Wertung hat nicht jeder Berufsanfänger und sucht stattdessen vergeblich Hilfe im Verfahrensrecht. So aber kann man sich an der Einschätzung der Autoren orientieren – oder es sein lassen, je nach Überzeugung und Überzeugtheit. Schließlich passt auch die sprachliche Aufbereitung der Materie. Natürlich ecken die Autoren dabei an der einen oder anderen Stelle auch einmal mit der Wortwahl an. Oder sie stellen eine Passage nicht so ausdifferenziert war wie es mancher Rechtsanwender gerne hätte. Aber in klarer und verständlicher Sprache wesentliche Aspekte auf den Punkt zu bringen, ist eine Leistung, die man würdigen muss, selbst wenn manche Wendung nicht gefallen sollte. Die Pointierung von Problemen ist eben eine andere Herangehensweise als die nüchterne Analyse höchstrichterlicher Rechtsprechung. Insofern kann das Buch aus meiner Sicht definitiv jedem Strafrechtler ans Herz gelegt und zur Lektüre empfohlen werden. Dies darf dann durchaus eklektizistisch erfolgen und nicht im Sinne eines blinden Folgens. Aber wenn sich die Autoren schon die Mühe gemacht haben, eine Vielzahl denkbarer und schon geschehener Probleme im Verfahren zusammenzutragen und auszuwerten und man das nicht (leidvoll) selbst tun muss, dann sollte man diesen Wissensschatz auch annehmen und (notfalls eben nur partiell) für sich selbst nutzen.