Braun / Klenk / Klemens (Hrsg.), SELBST verwalten!, 1. Auflage, Kohlhammer 2022
Von Ass. iur. Fabian Bünnemann, LL.M., LL.M., Essen
Die Selbstverwaltung ist ein wichtiges Strukturprinzip der deutschen Sozialversicherung. So bestimmt § 29 Abs. 1 SGB IV als Grundnorm, dass es sich bei den Sozialversicherungsträgern um Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung handelt. Damit hat der Gesetzgeber für einen begrenzten Bereich das Recht zur Selbst-Gesetzgebung auf die Versicherungsträger übertragen. Hierdurch soll den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich überlassen werden, um den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern (BVerfG NJW 1972, 1504 (1506)). Zwar wird die Selbstverwaltung mittlerweile in vielen Bereichen weithin eingehegt. Das BVerfG hat insofern betont, dass die staatliche Regelungsdichte mittlerweile derart hoch sei, dass den Sozialversicherungsträgern eine eigenverantwortliche Gestaltung des Satzungs-, Organisations-, Beitrags- und Leistungsrechts weitgehend verwehrt sei (BVerfG NZS 2005, 139 Rn. 15). Jedoch verbleiben wichtige Entscheidungen stets bei der Selbstverwaltung. Hervorzuheben ist insofern die Regelung der eigenen Organisation sowie der Einsatz des vorhandenen und die Einstellung neuen Personals. Dabei steht und fällt der Erfolg des Modells der Selbstverwaltung stets mit den Personen, die sie ausüben, die mithin in den jeweiligen Selbstverwaltungsorganen (mit)wirken.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich sehr auf das kürzlich bei Kohlhammer erschienene und von Bernhard Braun, Tanja Klenk und Uwe Klemens herausgegebene Werk mit dem zielweisenden und auffordernden Titel „SELBST verwalten!“gefreut. Die Herausgeber haben darin eine Reihe kenntnisreicher und teils sehr namhafter Autorinnen und Autoren versammelt, die sich einer Vielzahl von selbstverwaltungsrelevanten Themen widmen und damit einen prima Überblick über die Materie entstehen lassen.
Vorangestellt sind ein Geleitwort von Hubertus Heil sowie eine Einführung von Uwe Kelemens. Im weiteren Verlauf ist das Werk grob in die Abschnitte „Wer oder was ist die Soziale Selbstverwaltung?“, „Was die Soziale Selbstverwaltung leistet“, „Die Sozialwahlen als Fundament der Sozialen Selbstverwaltung“sowie einen „Ausblick“ gegliedert.
Ein paar Schlaglichter sollen pars pro toto herausgegriffen werden. Dem prägnanten Abriss über die Geschichte der Selbstverwaltung von Braun (S. 23 ff.) folgend singt Reiners ein Loblied auf die „ökonomische Vernunft der Selbstverwaltung“ (S. 42 ff.). Zwar würden die Krankenkassenbeiträge künftig weiter steigen, dies sei jedoch kein Problem und der gesellschaftlichen Entwicklung immanent. Eine Steuerfinanzierung der GKV – wie von manchen vorgeschlagen – sei abzulehnen, weil ökonomisch unvernünftig, erhöhe sie doch nur den Einfluss von Lobbygruppen und mache das Gesundheitswesen zu einem weiteren Spielball im Rahmen von Haushaltsstreitigkeiten. Gelungen ist auch der von Hofmanngezeichnete Überblick über die Selbstverwaltung in der GKV (S. 71 ff.), die auf wenigen Seiten die wesentlichen Prinzipien sowie die Strukturen der Selbstverwaltung zusammenfasst. Gerlinger befasst sich hingegen mit der Legitimation der Sozialen Selbstverwaltung (S. 161 ff.), die immer wieder in Frage gestellt wird – auch deswegen lohnt sich die Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten und etwaigen Legitimationsmängeln (vgl. dazu im Übrigen auch der Beitrag von Kluth, S. 190 ff.). Im Ergebnis sei für eine starke Selbstverwaltung die Stärkung ihrer Legitimation entscheidend, so Gerlinger(S. 172). Auch der geschlechtsspezifische Blick fehlt nicht. Einen solchen wirft Hauffe auf die Selbstverwaltungsorgane (S. 183 ff.). Dabei lobt sie zwar die bisherigen Entwicklungen, die erst kürzlich in der Einführung einer Mindestbeteiligung der Geschlechter für die Wahl der Selbstverwaltungsorgane mündeten (§ 47 Abs. 9, 10 SGB IV sowie § 52 Abs. 1a SGB IV). Gleichzeitig kritisiert Hauffe aber, dass qua Familienversicherung mitversicherte Frauen „strukturell von der Beteiligung an den Sozialwahlen ausgeschlossen“seien, was es zu beheben gelte (S. 185). Spezifisch mit den nunmehr modellhaft vorgesehenen Online-Wahlen bei den kommenden Sozialwahlen beschäftigen sich Papier(S. 204 ff.) sowie Schreiner/Fromm (S. 215 ff.). Dabei scheint Papierwesentlich optimistischer bzgl. der Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung zu sein (S. 214) als Schreiner/Fromm, die allein in der „Verlagerung des Wahlakts“ in die digitale Sphäre keinen Automatismus zu einer nachhaltig höheren Wahlbeteiligung erkennen wollen (S. 226).
Gerade angesichts der im Jahr 2023 stattfindenden Sozialversicherungswahlen ist es sehr lobenswert, dass dieses aktuelle Büchlein nun vorliegt. Es bietet eine wahre tour d’Horizon durch die für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane relevanten Themen. Daneben sparen die Autoren auch nicht an Kritik oder Meinungsfreudigkeit, wie die vorgehend genannten Beispiele zeigen. Dies schärft die Argumentation und erhöht die Lesefreude. Wissen sollte man aber auch: Dieses Werk soll einen Überblick schaffen, es verfolgt keinen tiefgehenden wissenschaftlichen Anspruch, sondern ist ein Sachbuch im besten Sinne. Literaturhinweise finden sich am Ende der jeweiligen Beiträge, auf Fußnoten wird weithin verzichtet.
Insgesamt gilt für das Werk eine klare Leseempfehlung. Dies gilt zunächst für die Ehrenamtlichen selbst. Die Rechtsprechung hat insofern die Erwartungshaltung aufgestellt, dass die ehrenamtlich in den Selbstverwaltungsorganen Tätigen sich über die einschlägigen Vorschriften und deren Auslegung, die Verwaltungspraxis und die wirtschaftlichen Folgen ihrer Maßnahmen ausreichend informieren (BSG, Urt. v. 19.12.1974 – 8/7 RKg 3/74, BeckRS 1974, 408). Damit korrespondiert nach Ansicht der Literatur auch ein Recht auf die Zurverfügungstellung von Fachbüchern (s. etwa LPK-SGB IV/Winkler, 3. Aufl. 2020, § 40 Rn. 8). Das vorliegende Werk ist für die Vermittlung grundlegender Kenntnisse über die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung sowie aktueller diesbezüglicher Reformdebatten hervorragend geeignet. Sozialversicherungsträger sollten dringend darüber nachdenken, es insbesondere neu gewählten Organmitgliedern zur Verfügung zu stellen. Dies dient nicht allein der Befriedigung des Informationsbedürfnisses der Organmitglieder, sondern dürfte sich auch äußerst positiv auf das Diskussionsniveau in den Sitzungen der Selbstverwaltungsorgane auswirken. Gerade neue Selbstverwaltungsorganmitglieder können hier einigen Erkenntnisgewinn für ihre eigene Arbeit „mitnehmen“. Darüber hinaus vermag das Werk auch insgesamt einen guten Einstieg in die Arbeit bei Sozialversicherungsträgern insgesamt zu bieten und kann damit auch hauptamtlich dort Tätigen empfohlen werden. Ob das Buch darüber hinaus geeignet ist, die „Soziale Selbstverwaltung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen“ (so der Klappentext), erscheint zumindest fraglich. Mag des Werk auch Interessierte erreichen, so doch sicherlich nicht den Großteil der Bevölkerung, dem die Sozialwahlen sowie die Soziale Selbstverwaltung in großen Teilen misslicherweise unbekannt sein dürften (was zugleich ein viel diskutiertes Legitimationsproblem darstellt).