Wiese / Kreutz / Oetker / Raab / Weber / Franzen / Gutzeit / Jacobs / Schubert, Gemeinschaftskommentar zum Betriebsverfassungsgesetz (GK-BetrVG), 12. Auflage, Wolters Kluwer 2022
Von Rechtsanwalt Marc Becker, Leipzig
„Alle (vier) Jahre wieder“ möchte man sagen, wenn die Neuauflage des GK-BetrVG vorliegt. Pünktlich zu den turnusmäßigen Betriebsratswahlen ist auch dieses Jahr der wohl umfangreichte und wissenschaftlichste Kommentar zum BetrVG in nunmehr 12. Auflage erschienen. Diese gibt den Bearbeitungsstand vom 01.08.2021 wieder und wurde im Autorenteam durch Frau Prof. Dr. Claudia Schubert ergänzt.
Schwerpunkt der Neuauflage sind ohne jeden Zweifel die Änderungen aufgrund des sog. Betriebsrätemodernisierungsgesetz (BRModG, Inkrafttreten: 14.06.2021), das in der vergangenen Legislaturperiode eine der umfassendsten Reformen des BetrVG seit mehreren Jahren mit sich brachte. Positiv hervorzuheben ist bereits an dieser Stelle, dass das Werk auch die Neufassung der Wahlordnung zum BetrVG (genauer: Erste Verordnung zur Durchführung des Betriebsverfassungsgesetzes) mit berücksichtigt. Diese war unter anderem durch Änderungen aufgrund des BRModG notwendig geworden. Dies ist gerade deshalb hervorzuheben, weil sich der Verordnungsgeber noch einmal bis zum 15.10.2022 mit dem Inkrafttreten der Wahlordnung Zeit ließ.
Aufgrund der umfassenden Änderungen durch das BRModG sollen im Rahmen der Rezension auszugweise ein paar der Neukommentierungen in den Blick genommen werden:
Ein zentraler Punkt des BRModG war die Einführung digitaler Betriebsratssitzungen. Während der Gesetzgeber zunächst – gezwungen durch die Covid19-Pandemie – in § 129 BetrVG interimsweise digitale Betriebsratssitzungen unkompliziert ermöglichte, finden sich nun die entsprechenden Normen verteilt über den Dritten Abschnitt des Zweiten Teils des BetrVG. Zentrale Neuregelung ist dabei der Vorrang der Präsenzsitzungen von Betriebsräten sowie die Notwendigkeit einer Geschäftsordnung (§ 30 Abs. 2 BetrVG). Raabkommentiert hier sehr umfassend die Neuregelungen und wirft auch einen Blick auf die Gesetzeshistorie und die Grundentscheidung des Gesetzgebers, den Präsenzsitzungen den Vorrang einzuräumen. Weiter wird erörtert, welche Anforderungen eine Geschäftsordnung für digitale Sitzungen des Betriebsrates erfüllen muss. Zu Recht weist Raabhier darauf hin, dass die vom Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung vorgeschlagene Sicherung des Vorrangs von Präsenzsitzungen durch eine Begrenzung der zulässigen Zahl wenig praktisch tauglich ist, da sich die Gesamtzahl notwendiger Sitzungen kaum abschätzen lässt. Er schlägt deshalb vor, den Vorrang von Präsenzsitzungen dadurch sicherzustellen, dass die Zulässigkeit digitaler Sitzungen auf bestimmte Sachverhalte und Themen begrenzt wird. Offen gelassen wird in der Kommentierung die Frage, ob die Geschäftsordnung die Fälle von zulässigen digitalen Sitzungen abschließend regeln muss. Auch bleibt meiner Ansicht nach offen, ob der Vorrang nur für vollständig digitale Sitzungen oder auch die Teilnahme einzelner Mitglieder in digitaler Form gilt. Gerade in letztem Fall würde dies widersinnig erscheinen, da die digitalen Sitzungen insbesondere auch dazu dienen sollen, bestimmten Personengruppen aktive Betriebsratsarbeit zu ermöglichen (z.B. Personen in Elternzeit; Personen, die leidensbedingt nicht in Präsenz teilnehmen können). Im Weiteren werden von Raab auch die übrigen (neuen) Voraussetzungen digitaler Betriebsratssitzungen überzeugend kommentiert. Die Ausführungen stellen damit eine äußerst hilfreiche Handreichung dar, da sicher in naher Zukunft verschiedene streitige Themen in diesem Zusammenhang auftauchen werden und eine durchaus dynamische Entwicklung zu erwarten ist.
Mit der Ablösung von § 129 BetrVG durch die Neuregelungen zu digitalen Betriebsratssitzungen entfielen auch die Regelungen u.a. zu digitalen Einigungsstellen und Betriebsversammlungen. Weber (zu § 42 BetrVG) und Jacobs (zu § 76 BetrVG) gehen davon aus, dass diese nunmehr nicht mehr in digitaler Form stattfinden dürfen. Während ich dies für Einigungsstellen immer dann für zutreffend halte, wenn diese sich konstituiert und Beschlüsse gefasst werden sollen, erscheint mir hingegen die digitale Durchführung für Beratungen und Besprechungen konsensual möglich. Gleiches gilt aus meiner Sicht für Betriebsversammlungen, hinsichtlich derer sich die Betriebsparteien auf eine digitale Durchführung verständigen können, sofern für alle Mitarbeitende die ordnungsgemäße Teilnahme sichergestellt werden kann. Hier wäre in einer Neuauflage eine klare Positionierung der Autoren wünschenswert.
Mit großer Spannung habe ich zudem die Kommentierung zum neu geschaffenen § 79a BetrVG erwartet, der die datenschutzrechtliche (Nicht-)Verantwortung des Betriebsrates regelt. Ziel der Regelung war es, die streitige Frage zu beantworten, ob der Betriebsrat bei entsprechender Datenverarbeitung selbst Verantwortlicher im Sinne der DSGVO ist. Unmittelbar mit Inkrafttreten der Norm wurde bereits die Regelungsbefugnis des deutschen Gesetzgebers in Zweifel gezogen (z.B. Maschmann, NZA 2021, 834). Franzen geht sieht diese in Art. 4 Nr. 7 Hs. 1 DSGVO. Unabhängig davon arbeitet er jedenfalls aus meiner Sicht zutreffend das zentrale Problem der Neuregelung heraus, dass der Gesetzgeber die Verantwortlichkeit dem Arbeitgeber zugewiesen hat, ohne dass diesem (richtigerweise) ein Eingriffsrecht gegenüber dem Betriebsrat zusteht. Franzen löst dies überzeugend dahingehend, dass der Betriebsrat den Arbeitgeber in zulässigem und notwendigem Rahmen unterstützen und z.B. erforderliche Auskünfte erteilen muss. Nicht wirklich überzeugend erscheint die Lösung zum Verarbeitungsverzeichnis. Hier ist nach Franzen der Betriebsrat nicht verpflichtet, dem Arbeitgeber Informationen über seine Verarbeitungstätigkeiten zu erteilen und müsse dementsprechend selbst ein Verarbeitungsverzeichnis führen. Hierfür fehlt es aber nach meiner Auffassung an einer entsprechenden Pflicht. Diese Problematik kann aber nicht der Kommentierung angelastet werden, sondern folgt aus der gesetzlichen Konstruktion. Franzen liefert insoweit zunächst pragmatische Lösungen.
Zu guter Letzt soll noch ein Blick in die Kommentierung des neuen Mitbestimmungstatbestandes zur „mobilen Arbeit“, § 87 Abs. 1 Nr. 14 BetrVG, geworfen werden. Gutzeit führt zutreffend aus, dass es sich dabei mehr oder minder um einen Auffangtatbestand der übrigen Mitbestimmungsrechte des § 87 Abs. 1 BetrVG handelt, da auch nach bisheriger Rechtslage die wesentlichen Elemente sog. mobiler Arbeit der Mitbestimmung unterlagen (z.B. nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 6 BetrVG). Der eigenständige Regelungsgehalt ist mithin überschaubar. So beschränkt sich die Kommentierung auch weitgehend auf Aussagen dazu, was unter den Begriff der mobilen Arbeit zu fassen ist.
Die besprochenen Abschnitte zeigen pars pro toto die umfassende und wissenschaftliche Auseinandersetzung des Kommentars mit den Vorschriften des BetrVG. Für Praktiker, die nicht nur am Rand mit betriebsverfassungsrechtlichen Fragen konfrontiert sind, führt kein Weg am GK-BetrVG vorbei. Zudem hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Argumentationslinien zu offenen Rechtsfragen sich auch häufig in der Rechtsprechungspraxis niedergeschlagen haben. Um es kurz zu machen: der Kommentar ist im Betriebsverfassungsrecht unverzichtbar und das völlig zu Recht.
Soweit man nach Verbesserungspotential suchen möchte, fällt nach meiner Auffassung für künftige Auflagen die Zitation von Entscheidungen des BAG in den Blick. Die Kommentierung verzichtet hier auf eine Nennung des Aktenzeichens. Als Fundstellen werden die „Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht (EzA)“ sowie die „Arbeitsrechtliche Praxis (AP)“ herangezogen. Ein Verweis auf sonstige Printfundstellen (NZA, RdA etc.) fehlt meist. Zwar mögen die genannten Fundstellen ohne Zweifel eine wissenschaftlich fundierte Zitation ermöglichen. Anderseits sind diese nur mit erheblichem Aufwand im Zusammenhang mit elektronischen Datenbanken zu nutzen. Selbst wenn man die gesamte Fundstelle (z.B. „EzA § 80 BetrVG 1972 Nr. 15“ oder „AP Nr. 5 zu § 76a BetrVG 1972“) in einschlägigen Datenbanken sucht, konnte – stichprobenartig – kein Treffer erzielt werden. Durch die zunehmende Verzahnung von Printmedien und elektronischen Datenbanken könnte hier die Nutzerfreundlichkeit erhöht werden, indem Aktenzeichen genannt oder übliche Zeitschriftenfundstellen verwendet werden.
Der vorgenannten Punkt schmälert selbstredend die Qualität des Werkes nicht im Geringsten. Insgesamt ist der Kommentar auch für die kommenden vier Jahre in erster Linie zur Lektüre aber selbstverständlich auch zum Kauf zu empfehlen.