Sommer, Effektive Strafverteidigung, 4. Auflage, Carl Heymanns 2020
Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl
Jede Auflage des beeindruckenden Werks von Sommer ist bisher hier im Blog mit einer Rezension begleitet und gewürdigt worden (1. Auflage, 2. Auflage, 3. Auflage). Nun ist in der bekannten Stetigkeit eine Neuauflage nötig geworden, da insbesondere der Gesetzgeber die StPO in den letzten Jahren einem enormen Veränderungsfluss ausgesetzt hat. Auf über 750 Seiten inklusive Verzeichnissen harrt die Thematik der Lektüre und – dies kann man durchaus schon zu Beginn der Besprechung verraten – sie lohnt sich, selbst wenn man mit der teilweise selbstgefälligen Darstellungsweise des Autors nicht übereinstimmen mag (pars pro toto Kap. 1, Rn. 91 ff. über den Dialog bzw. Diskurs im Gerichtsverfahren).
Natürlich sind Handbücher, die sich einer Materie vertieft widmen, anders aufgestellt als Lehrbücher oder Skripten, die mit anschaulichen Graphiken oder Schaubildern Strukturen herunterbrechen können und müssen. Hier aber hat man Zeit zur Wissensgenese und zur Auseinandersetzung mit den Thesen des Autors bzw. sollte sie sich nehmen. Dafür, dass das Buch ausschließlich textlastig ist, ist das Lektüreerlebnis aber angenehm. Die Randnummern sind gut unterteilt, echte Fußnoten entlasten den Fließtext, Zitate und Beispiele stehen eingerückt, werden teilweise mit grauen Balken betont oder stehen teilweise in kursiver Schriftart. Einzig der Fettdruck von Leitwörtern als Hervorhebung geht ein wenig unter und könnte durchaus intensiviert werden.
Das Werk ist „nur“ in drei Kapitel aufgeteilt und beginnt schon mit einer „provozierenden“ Einleitung, in der die angebliche „Realität“ der Strafverteidigung angesprochen wird. Die nie versiegende Zahl von spektakulären und teilweise spektakulär falsch entschiedenen Fällen wird von Verteidigern gerne herangezogen, um das Rechtsfindungssystem der Justiz und ihrer Beteiligten generell einem diskreditierenden Blick zu unterwerfen. Leider findet sich in Werken daneben leider nie der selbstkritische Blick auf unsägliches Verhalten der Verteidigung, wovon jeder Strafrichter aus kleinen wie aus großen Verfahren berichten kann. Ist eine solche reißerische Einleitung also schon tendenziös? Man kann es offenlassen, aber hilfreich ist es auf keinen Fall, um sich kritisch mit der Sache und dem eigentlich lobenswerten Ziel, das Verfahren zu verbessern, zu befassen.
Was wird inhaltlich geboten? Im ersten Kapitel geht es um das „Recht der Strafverteidigung“, aber nicht theoretisch trocken, sondern fokussiert auf die Problematik der Wahrheitsfindung und die dabei vorhandenen Hindernisse, die aus der verschiedenartigen Sicht der Protagonisten auf den Prozessstoff herrühren. Dass dabei (erneut, aber aus Verteidigersicht konsequent, vgl. dazu z.B. auch die Besprechung von Klemke / Elbs, Einführung in die Praxis der Strafverteidigung, 4. Auflage) einseitig die Kommunikationsstruktur eines Gerichtsverfahrens gerügt wird (Kap. 1, Rn. 91 ff.) ist nachvollziehbar, aber sinnlos. Der von Sommer geforderte, einem Zivilverfahren fast ähnliche Dialog über Tatsachenwertungen und Rechtsfragen vor der Urteilsbegründung, ist mit den Prinzipien der Unvoreingenommenheit einerseits, mit der Praxis des Befangenheitsantrags der Verteidigung andererseits, also rechtlich und tatsächlich nicht zu realisieren.
Auch in kaum verhohlener Befindlichkeit vorgetragene Kritik selbst in kleineren Kapiteln (Kap. 1, Rn. 274 ff., contra die „Disziplinierung“ des Mandanten durch die Verteidigung) wird nicht hinreichend relativiert: Die schlichte Mitteilung, dass der BGH die Revision des selbst Dutzende von Beweisanträgen stellenden Angeklagten abgewiesen hat, bietet keinerlei Information dazu, ob denn die Ansicht des Autors zur Frage der Filterung des Handelns des Angeklagten durch den Verteidiger geboten oder doch unzutreffend ist. Durch selektive Darstellung wie diese wird natürlich ein Grundtenor für die schon aus dem Buchtitel erkenntliche Zielgruppe geschaffen und aufrechterhalten. Aber es ist für die objektive Lektüre unzureichend und unbefriedigend, da sie insbesondere nicht klarstellt, ob es gegen solche Ansätze des Gerichts berechtigte Gegenschritte gibt oder nicht. Dass der Autor „Zusammenarbeit“ von (notwendigen) Prozessbeteiligten standesgemäß anders beurteilt als z.B. Gericht und Staatsanwalt (vgl. dazu auch Kap. 1, Rn. 344 ff. zur Teamverteidigung), ist nicht zu beanstanden, widerspricht aber auch schon wieder diametral seinem Wunsch, im Prozess Dialoge zu führen: warum sollte sich ein Gericht auf Dialog oder Diskurs mit einer Vielstimmigkeit aus Angeklagtem und Verteidiger oder gar mehreren Verteidigern einlassen? Oder sich gar unnötig mit unzuverlässigen Verteidigern abmühen (vgl. Kap. 1, Rn. 401 f.: Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers)? Das ist schlicht nicht belastbar und unterstreicht das Mantra der Rechtsprechung zu Recht, dass der Beschuldigte „gehört, aber nicht erhört“ werden muss. Es geht immerhin um Staatsgewalt und nicht um disponible Interessen.
Dass der Autor sich in seiner Sicht auf die Dinge auch in einem erstaunlichen Zwiespalt befindet, zeigen die Ausführungen zur „gerichtlichen Fürsorge“ bei der Überwachung des Verteidigerverhaltens (Kap. 1, Rn. 421 ff.): wann ist denn eine (Pflicht-)Verteidigung so „schlecht“, dass das Gericht zum rettenden Eingriff zugunsten des Angeklagten animiert oder gar verpflichtet wäre? Die gewählten Beispiele sind durchaus selbstgefällig („keine zulässige Verfahrensrüge zu verfassen“, schwierige Vorgabe der Konnexität bei Beweisanträgen), denn selbst gestandene Strafverteidiger scheitern durchaus an den Hürden des Revisions- bzw. Rechtsbeschwerderechts. Und die soll das Gericht dann nicht mehr beiordnen? Oder vorsorglich als Pflichtverteidiger austauschen? Oder schlimmstenfalls einen zuvor schlimm gescholtenen „Sicherheitsverteidiger“ beiordnen, um die ordnungsgemäße Stellung eines Beweisantrags oder die zulässige Ausführung einer Verfahrensrüge zu garantieren? Man verzeihe mir diesen Anflug von Sarkasmus, aber – so unterhaltsam und anregend ich die Ausführungen von Sommer finde – Forderungen an die Rechtsausübung der Justiz sollten in sich stringent sein und keine Rosinenpickerei darstellen.
Bedauerlich ist, dass das Handbuch bei interessanten Detailfragen der Gesetzgebung und Rechtsprechung hinterherhinkt (Kap. 1, Rn. 324 ff.): dort wird weiterhin propagiert, dass der Verteidiger die Vertretungsvollmacht im eigenen Namen unterzeichnen dürfe, was nach der Neuerung des § 329 StPO von vor einigen Jahren durch den Gesetzgeber ausdrücklich verneint wurde und auch durch die Rechtsprechung bereits aufgegriffen wurde.
Das zweite Kapitel widmet sich der Psychologie der Strafverteidigung und geht dabei auch auf viele grundlegende Fragen ein, darunter die Fehleranalyse. Erkenntnisse daraus sind in jeder Phase der juristischen Laufbahn zu vergegenwärtigen, um das eigene Handeln zu hinterfragen und den Erkenntnisprozess auf belastbares Fundament zu stellen. Die hierzu erfolgten Ausführungen dürfen also gerne immer einmal wieder gelesen und memoriert werden, u.a. die Frage der Gewichtung von Informationen nach zeitlicher Abfolge (Kap. 2, Rn. 133 ff.) und das Ausschalten des egozentrischen Filters (Kap. 2, Rn. 184 ff.). Von diesen gut ausformulierten und allgemein wichtigen Erkenntnissen schwenkt Sommer dann aber rasch wieder auf seinen bekannten Duktus um, um im Abschnitt „III. Recht und Irrationalität“ den Umstand anzuprangern, dass Ergebnisse eines Strafprozesses nicht vorhersehbar sind und es zu Fehlentscheidungen kommen kann. Das ist einerseits systemimmanent, zum anderen wird die Ausnahme zum Hauptfall hochgejazzt. Der zuvor von Sommer so vehement abgelehnte Kommunikationsfilter des Verteidigers zum Angeklagten könnte z.B. dafür sorgen, dass der „Eindruck“ (sic!) von Willkür gar nicht erst entsteht. Die egozentrische Fehlvorstellung, um bei SommersBeispielen zu bleiben, von eigener Unschuld und Ablauf des Verfahrens, die auf Angeklagtenseite bestehen kann, wäre etwa durch den Verteidiger effektiv zu relativieren, während sich ein Richter, der dies unternähme, sofort in den Verdacht der Befangenheit begeben würde. Wenn sodann die freie richterliche Beweiswürdigung dargestellt und kritisiert wird, passiert das, was auch oft in Revisionsverfahren zu beobachten ist: Die eigene Sicht darauf, wie eine Beweisaufnahme abzulaufen und welches Ergebnis sie zu erbringen habe, wird an die Stelle der Sicht des Gerichts gesetzt. Für die eigene Psyche befriedigend, aber rechtlich ineffektiv. Man müsste das Ganze nicht mit so spitzer Feder bewerten, wenn nicht Sommer selbst immer wieder die Keule des Zynismus schwingen würde (pars pro toto Kap. 2, Rn. 219: „Mangels göttlichen Beistands…“; Rn. 679 „richterliche Inszenierung“ etc.), selbst wenn seine Kritik mitunter mehr als berechtigt ist (Kap. 2, Rn. 277 ff. Die Einbeziehung der Medien). Das obligatorische Lamentieren über die „Konfliktverteidigung“ geht dabei am Ende des zweiten Kapitels fast schon unter.
Im dritten Kapitel geht es schließlich um die „Praxis der Strafverteidigung“, in der wieder viele lehrreiche Unterkapitel der Lektüre harren: die Wahrung von Beschuldigtenrechten, der strikte unabänderbare Status des Beschuldigten oder schlicht die zügige Überprüfung von Haftgründen und Haftzuständen sind immer wiederkehrende Alltagsfragen, die stets mit der gleichen Genauigkeit zu bearbeiten sind. Spannend sind auch die Ausführungen zu den Geheimen Ermittlungsmethoden in Unterkapitel A.VIII., wo vorhandene Diskrepanzen zwischen Anspruch der StPO und Ermittlungswirklichkeit schön aufgezeigt werden und somit zielsicher die Ermahnung ausgesprochen wird, die Hürden der Eingriffe ernst zu nehmen. Ob man das im Ergebnis so drastisch machen muss wie Sommer („Lügenkonstrukt“, Kap. 3, Rn. 177; „verlogene Vorgehensweise“, Kap. 3, Rn. 206; etc.) ist dann letzten Endes wieder eine Geschmacksfrage und es verhält sich wie in den Vorkapiteln: mit diesem Stil will man gar nicht über die Sache diskutieren, sondern anprangern. Kann man natürlich gerne machen, verkauft sich auch gut, aber dann ist man eben kein Diskussionspartner, sondern nur ein Demonstrant.
Sehr hilfreich, gerade für junge Anwälte, sind die vielen Handlungsvorschläge für das eigene Tun in Kapitel drei. Als Beispiel lässt sich das Dokumentationsmanagement auswählen (Kap. 3, Rn. 348 ff.), aber auch an vielen anderen Stellen, gerade wenn die Beweisaufnahme seziert wird (S. 469 ff.), wird erlebte Prozesserfahrung klug weitergegeben und vor allem durch konkrete Anwendungsvorschläge untermauert. Hier zeigt sich die wahre Stärke des Handbuchs, nämlich die Kombination aus einer Anleitung zur Fehlervermeidung und zugleich der Hinführung zur selbstbewussten Ausübung der Verteidigerstellung im Gefüge der StPO.
Was bleibt als Fazit? Das Handbuch ist unterhaltsam, phasenweise leider tendenziös, aber geprägt von fundierten Kenntnissen und starker Meinung. Die Lektüre geht gerade deshalb leicht von der Hand und man findet in jedem Kapitel Aspekte, die alle professionellen Verfahrensbeteiligten tangieren und diese konsequenterweise zur Selbstprüfung animieren, ob das eigene Handeln den hohem Maximen des Strafprozesses Stand hält. Ob man mit den Thesen, Forderungen und Schlussfolgerungen von Sommer nun konform geht oder nicht, ist zweitrangig: Es ist eine wahre Streitschrift, die manchmal im Ton daneben liegt, aber die das Recht im bedingungslosen Fokus hat. So kann jeder Leser aus dem Werk das herausziehen, was für den eigenen Bedarf wichtig ist – und über den Rest kann man einfach mal nachdenken oder ggf. auch nur schmunzeln. Aus meiner Sicht ist die Lektüre sehr empfehlenswert.