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Rezension: Das kollektive Arbeitsrecht vor dem Europäischen Komitee Sozialer Rechte

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Heil, Das kollektive Arbeitsrecht vor dem Europäischen Komitee Sozialer Rechte, 1. Auflage, Duncker & Humblot 2020

Von Ass. iur. Fabian Bünnemann, LL.M., LL.M., Essen

 


Das kollektive Arbeitsrecht ist nicht das „täglich Brot“ eines jeden Arbeitsrechtlers. Dies gilt wohl insbesondere hinsichtlich der Einflüsse des europäischen und internationalen Rechts, die auf das nationale kollektive Arbeitsrecht einwirken oder jedenfalls potenziell einwirken können bzw. könnten. Vieles ist insofern noch nicht hinreichend ergründet worden, doch erscheinen immer wieder Monographien, die in dieses noch vielfach unerkundete Feld vorstoßen, sich bislang un- oder nicht gebührend behandelten Spezialthemen widmen und diese für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis aufbereiten. Ein solches Werk hat nun auch Dorothea Heil mit ihrer im Sommersemester 2019 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommenen Arbeit vorgelegt. Heil setzt sich in ihrer Arbeit mit bestimmten Regelungen der Europäischen Sozialcharta (ESC) bzw. ihrer revidierten Fassung (RESC) auseinander. Dieses Rechtswerk wurde bereits zu Beginn der 1960er Jahre vom Europarat beschlossen und ergänzte damit die EMRK für den Bereich der sozialen Rechte. Die Überwachung der Einhaltung der ESC bzw. RESC obliegt dem Europäischen Komitee Sozialer Rechte (EKSR), das allerdings nur im Rahmen von Stellungnahmen auf die Einhaltung hinzuwirken vermag. Dass die (R)ESC sowie die Stellungnahmen aber durchaus von Belang sind, hat nicht zuletzt die grundlegende Entscheidung Demir u. Baykara/Türkei des EGMR (Urt. v. 12.11.2008 – 34503/97, NJOZ 2010, 1897) gezeigt. Das Anliegen von Heil, sich der kollektiv arbeitsrechtlichen Regelungen der (R)ESC und der zugehörigen Spruchpraxis des Kontrollorgans einmal grundlegend anzunehmen, ist daher sehr zu begrüßen.

Zunächst leitet die Autorin kurz in die Thematik ein und stellt die Relevanz des Themas sowie den Gang ihrer Untersuchung dar (Einleitung, S. 29 ff.). Sodann widmet sie sich den einschlägigen, das kollektive Arbeitsrecht betreffenden Regelungen in ESC und RESC (§ 1). Heilbeginnt mit der Erläuterung der Struktur von ESC und RESC (S. 33 ff.), die sicherlich nicht jedem geläufig ist, jedenfalls aber die Grundlage für die vorliegende Arbeit bildet. Es folgt eine Darstellung der normativen Grundlagen des kollektiven Arbeitsrecht in der RESC (S. 37 ff.), insbesondere der Art. 5 und 6, sowie ergänzender Vorschriften. Sodann erläutert die Autorin die Überwachungsverfahren der RESC, hierbei vor allem, wie diese zur Auslegung und Konkretisierung der RESC beitragen (S. 48 ff.). Dabei habe ich mich darüber gefreut, dass Heil in diesem Zusammenhang auch weitere Fragen klärt, etwa zur Aussagekraft von Stellungnahmen des EKSR (S. 53 ff.) oder zur Zugänglichkeit und Zitierweise der Stellungnahmen (S. 55).

Es folgt die eigentliche Untersuchung, die vorgibt, „eine Bestandsaufnahme“ zu sein, aber doch viel mehr ist als das. So systematisiert die Autorin hier die Art. 5 und 6 RESC, darüber hinaus zudem zusätzliche Regelungen (etwa Art. 21, 22, 29), und stellt die Gewährleistungen ausführlich und anhand der Stellungnahmen des EKSR dar. Im Hinblick auf das Recht auf Kollektivmaßnahmen (Art. 6 Nr. 4 RESC), zu dem es eine ausführliche Spruchpraxis, aber auch hohen Auslegungsbedarf gibt, arbeitet Heil zunächst den Zweck von Kollektivmaßnahmen heraus (S. 147 ff.) und widmet sich dann den Kollektivmaßnahmen der Arbeitnehmerseite, zuvörderst dem Streik (S. 149 ff.). Ein besonderes Augenmerk liegt auf der umstrittenen Beschränkung des Streikrechts im Bereich der Daseinsvorsorge (etwa S. 168, 174), da es hierzu eine Vielzahl von Stellungnahmen gibt. Bei alldem liegt der Auswertung der Stellungnahmen ein hohes Maß an Fleißarbeit zugrunde, was sich besonders dann auszahlt, wenn die Autorin die Kasuistik zu bestimmten Problemen prägnant darstellt (so etwa zur Untersagung von Streiks, S. 172 ff.). Etwas schade finde ich, dass die zulässigen Ziele von Arbeitskämpfen nicht ausführlicher betrachtet werden, liegen hier doch nicht nur einige Stellungnahmen zu vor, sondern besteht auch viel Raum für Diskussion und Interpretation (vgl. etwa Kohte/Doll, ZESAR 2003, 393).

Doch gibt sich Heil mit der „Bestandsaufnahme“nicht zufrieden, sondern geht weiter und widmet sich in ihrer Analyse der Auslegungsergebnisse und ihrer Begründung (§ 3) maßgeblich der Konsistenz und der Begründung der Auslegungsergebnisse durch das EKSR. Dieser Teil ist höchst interessant, will man wissen, wie das EKSR argumentiert, nach welchen Methoden es die Regelungen der RESC auslegt und wie die Auslegungsergebnisse begründet (vgl. zu den Auslegungsmethoden bereits Fabricius, in: FS Gleitze, 1978, 475). Zum Ende dieses Teils hin wirft die Autorin dann noch einen Blick in die Zukunft und versucht die mögliche Bedeutung ihrer Analyse für künftige Stellungnahmen zu eruieren (S. 304 ff.). Hier wirft sie etwa die vieldiskutierte Frage auf, ob die Beschränkung des Streikrechts auf tariflich regelbare Ziele der RESC in der Auslegung des EKSR entspricht (S. 307), kommt aber insgesamt zum Ergebnis, dass die Auslegung durch das EKSR nur schwerlich vorhergesagt werden könne, gerade da keine der Auslegungsmethoden vorherrschend sei (S. 308). Dieser letzte Abschnitt hätte das Potenzial für eine eigene Untersuchung gehabt, gibt es doch auch zu den umstrittenen Fragen teilweise schon reichlich Literatur, wie die Autorin auch selbst anerkennt (S. 31); allerdings ist dies nicht das Ziel der Arbeit, die vor allem eine „vollständige und systematisierende Darstellung“ des kollektiven Arbeitsrechts der (R)ESC bieten will (ibid.), was Heil auch in sehr guter Weise gelingt.

Abschließend werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst (S. 310 f.). Der Anhang (S. 312 ff.) zeigt in Schaubildern die statistische Auswertung der Auslegungsmethoden in den Stellungnahmen des EKSR. Ein sehr ausführliches Literatur- sowie ein Sachverzeichnis runden das Werk ab.

Die Autorin hat mit ihrer Untersuchung Pionierarbeit geleistet. Obgleich bereits zuvor verschiedene Werke und Abhandlungen sich dem Thema der Europäischen Sozialcharta – und insbesondere ihres Einflusses auf das deutsche Arbeitskampfrecht – gewidmet haben, wird vorliegend – soweit ersichtlich – erstmals die Spruchpraxis zu den das kollektive Arbeitsrecht betreffenden Normen des (R)ESC systematisch ausgewertet. Das Werk ist insgesamt sehr systematisch aufgebaut, folgt den rechtlichen Regelungen und handelt diese stringent ab. Herausragend ist die Auswertung der Stellungnahmen des EKSR, die den Kern der Arbeit darstellt. Daneben ist die sehr umfassende Auswertung der vorhandenen Literatur überaus lobenswert, da diese dem Leser die Möglichkeit gibt, anhand der Fundstellen die Lektüre nicht nur zu vertiefen, sondern sich auch in bestehende Streitstände (etwa zum Arbeitskampfrecht) einzulesen. Die Arbeit ist vor allem allen am kollektiven Arbeitsrecht Interessierten zur Lektüre empfohlen, wobei ein gewisses Interesse am internationalen Recht vorausgesetzt wird. Für die Praxis wird die Arbeit dort relevant, wo Gerichte Regelungen der (R)ESC sowie die Stellungnahmen zur Auslegung anderer Normwerke heranziehen. Damit hat Heil eine kluge Arbeit vorgelegt, die Grundlagen liefert, auf denen aufzubauen sein wird. Ein Werk von bleibendem Wert.


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