Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht – Handbuch des Wirtschaftsstraf- und –ordnungswidrigkeitenrechts, 6. Auflage, Otto Schmidt 2015
Von Rechtsanwalt Thorsten Franke-Roericht, LL.M. Wirtschaftsstrafrecht, Frankfurt a.M., und Regierungsdirektor a.D., Sachverständiger in Wirtschaftsstrafverfahren, Dr. Werner Franke, Schermbeck
Das nunmehr in 6. Auflage vorliegende Werk ist eines der wirtschaftsstrafrechtlichen Standardwerke. Für manche ist es sogar ein „Monument, das Maßstäbe setzt“ (Bittmann, wistra 2011, 373, 374, zur Vorauflage), andere bezeichnen es als „die ‚grüne Bibel‘ für Wirtschaftsstrafrechtler“ (Kudlich, ZIS 2007, 192, 192, zur 4. Auflage). Zu Zeiten der Erstauflage (1987) war es noch „geboten, die Bedeutung der [im Handbuch] behandelten Thematik, die Konzeption dieser Darstellung (samt ihrer Grenzen) und die Motivation von Herausgeber und Autoren im Vorwort zu erläutern“, (Vorwort zur 6. Auflage, VII.) Blickt man auf die Entwicklung des Phänomens Wirtschaftsstrafrecht, kann man feststellen: über die letzten drei Dekaden haben insbesondere Wirtschaftsstrafverfahren den öffentlichen und fachlichen Diskurs bewegt. Hierzu gehört auch die aktuelle Frage, ob bestimmte unternehmerische Fehlentwicklungen (z.B. das Scheitern hochspekulativer Investments) in die Kategorie des Strafrechts eingeordnet werden müssen. Die Neuauflage des Handbuchs berücksichtigt den Rechtsstand bis Anfang August 2014 sowie zusätzlich das mit Wirkung ab dem 1.1.2015 (erneut) verschärfte Recht der Selbstanzeige und das 49. Strafrechtsänderungsgesetz vom 21.1.2015.
Ziel, Konzeption und Gliederung: Das Handbuch soll auch in dieser Auflage „den dynamischen und außerordentlich vielschichtigen Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ‚aus der Praxis für die Praxis‘ in einem übersichtlichen Rahmen darstellen“ und – so der Herausgeber im Namen aller Mitautoren weiter – „dabei den einzelnen Bearbeitern viel Raum zur individuellen Gestaltung der jeweiligen Thematik“ lassen (Vorwort, X). Für die Darstellung der Thematik wurde von Anfang an ein recht ungewöhnliches Konzept gewählt: das Unternehmen als „wirtschaftende Einheit“ dient als „Kristallisationspunkt“, um das Phänomen der Wirtschaftskriminalität und die Normen zu deren Bekämpfung zu erfassen (§ 1 Rz. 18). Dieser Ansatz entspricht zwar – wie der Herausgeber im selben Atemzug betont – nicht der Strafrechtsdogmatik, ist aber aus der Blickrichtung der Praxis schlüssig. Die Gliederung setzt den Ansatz dann konsequent um, indem sie chronologisch den „Lebensabschnitten“ eines Unternehmens und den typischen Bereichen unternehmerischer Betätigung folgt. Demgemäß werden nach einer Einführung (1. Teil) die Pflichtverstöße bei Gründung (2.), Betrieb (3.) und Sanierung bzw. Beendigung des Unternehmens (4.) behandelt. Das Werk schließt mit dem Teil „Berater im Wirtschaftsstrafrecht“ (5). Die einzelnen Teile sind in Kapitel untergliedert, die ihrerseits in – fortgeführte – Paragraphen aufgefächert sind (insgesamt 96).
Die Kritik von Bär (MMR-Aktuell, 2011, 323987), der unternehmensbezogene Ansatz erschwere teilweise den Zugang zu einzelnen Straftatbeständen, da sie auf mehrere Kapitel verteilt dargestellt werden, ist durchaus berechtigt. Deutlich wird dies beispielsweise an den steuerstrafrechtlichen Bezügen, die im 2. Kapitel des 1. Teils (§ 15), 1. Kapitel des 2. Teils (§ 24), 2. und 3. Kapitel des 3. Teils (§ 38; §§ 43 ff.), 3. Kapitel des 4. Teils (§ 89) sowie im 3. Kapitel des 5. Teils (§ 96) aufgezeigt werden. Die Kritik ist u.E. allerdings in zweifacher Hinsicht abzuschwächen: zum einen dient das detaillierte, nahezu 200 Seiten umfassende Gesetzes- und Stichwortverzeichnis als hilfreicher Einstieg (so auch Bär zur Vorauflage, aaO), zum anderen werden über die lebensabschnittorientierten Darstellungen die möglichen strafrechtlichen Risiken erst sichtbar (vgl. z.B. im Rahmen der Unternehmensnachfolge: § 89). Der letzte Punkt ist für den Praktiker im eminent vielschichten Bereich des Wirtschaftsstrafrechts von besonderer Bedeutung.
Personelle Änderungen: Klaus Bieneck (OStA a.D., RA, Stuttgart), Mitautor der ersten Stunde und Mitherausgeber der drei vorangegangen Auflagen (2011, 2006, 2000), ist wenige Monate nach Erscheinen der 5. Auflage verstorben. Dr. Christian Müller-Gugenberger (RiOLG a.D., Stuttgart) ist damit wieder alleiniger Herausgeber. Zwei Autoren sind aus persönlichen Gründen aus dem Team ausgeschieden (Dr. Peter Bender, Finanzpräsident a.D., RA, Hannover, zuständig für Zollrecht, Marktordnung, Subventionen; Gernot Blessing, OStA, Stuttgart, zuständig für Arbeitnehmerschutz und Betriebsverfassung, Korruption, Notstand). Dieser „Aderlass“ (Vorwort, IX) wurde durch Bestandsautoren ausgeglichen; zudem konnten sechs neue Mitautor(inn)en hinzugewonnen werden (aaO).
Die personellen Änderungen lassen m.E. [Franke-Roericht] den nicht zu unterschätzenden Einfluss staatsanwaltschaftlicher Perspektiven auf die Materie Wirtschaftsstrafrecht unberührt: weiterhin ist der überwiegende Teil der Autoren (18 von 30) beruflich diesem Strafverfolgungsorgan verhaftet, lediglich drei Autoren sind als Rechtsanwalt tätig. Dieser Blickwinkel mag ein Grund sein, weshalb zahlreiche (Schwerpunkt- )Staatsanwaltschaften gerade dieses Handbuch erwerben. Die „staatsanwaltschaftliche Perspektive“ ist hier nicht pejorativ zu verstehen; gleichwohl wird an einzelnen Stellen eine Sichtweise deutlich, die m.E. zu stark gefärbt ist. Folgender Auszug soll dies verdeutlichen:
Im 1. Kapitel des 5. Teils „Berater im Wirtschaftsstrafrecht“ (§ 90, Einführung) führt Dr. Johannes Häcker (Ltd. OStA a.D., Stuttgart) zum Unterpunkt „1. Zur Bedeutung der Berater“ aus: „Kennzeichnet man die gefährlichsten Wirtschaftsstraftäter [Hervorhebung im Original] noch damit, dass sie bewusst Spezialisten in Rechts- und Wirtschaftsfragen heranziehen, um Grauzonen und echte oder vermeintliche Gesetzeslücken für die Tatbegehung ausnutzen oder um ihre Taten von vornherein bestmöglich zu verschleiern oder um schließlich nachträglich Spuren zu verwischen, so rechtfertigen es schon allein diese Aspekte, mögliche strafrechtliche Verwicklungen von Beratern in Wirtschaftsstrafsachen im Rahmen ihrer Berufsausübung einer gesonderten Erörterung zu unterziehen“ (Rz. 1). Dem Autor ist zunächst zuzustimmen, dass auch die Beratungsberufe nicht per se aus dem hier diskutierten Kontext herausgenommen werden können. Wenn jedoch Berater gleich zu Anfang dieses Teils als Spezialisten für dolose Gestaltungen beschrieben werden, die zudem „gefährlichste[n] Wirtschaftsstraftäter[n]“ (was bedeutet in diesem Zusammenhang „gefährlich“, wie heben sich Wirtschaftsstraftäter von „nicht-gefährlichen“ Straftätern ab, was sind gefährliche Wirtschaftsstraftäter, wodurch zeichnen sich gefährlichste Wirtschaftsstraftäter gegenüber anderen, bloß gefährlicheren aus?) dienen, wird hierüber eine verengte Wahrnehmung der Beraterschaft deutlich. Um die Verstrickungen – insbesondere von Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern, Notaren – anschließend in tatsächlicher Hinsicht zu untermauern, verweist der Autor u.a. darauf, dass die „Dunkelziffer gerade dieser Beraterberufe als erheblich veranschlagt“ werden müsse (§ 90 Rz. 2). Als empirische Grundlage dienen ihm eigene und fremde Erfahrungen aus dem Bereich der Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen (aaO); gleichzeitig wird zugestanden, dass „verlässliches Material für zuverlässige Schätzungen“ bisher nicht vorliege (aaO). Hier fragt sich dann der geneigte – zugegeben: anwaltlich denkende – Leser zunächst, von welchen empirischen Hellziffern der Autor ausgeht, wie hoch die nicht-erhebliche Dunkelziffer ist und wie aus den – gemessen an den bundesweit zu erhebenden Gesamtzahlen – zahlenmäßig (wohl) überschaubaren Einzelbetrachtungen die Wertung „erheblich“ werden konnte. Eine andere Frage ist, ob nicht eine differenzierende Darstellung der Beraterschaft möglich gewesen wäre.
Zu den wesentlichen inhaltlichen Änderungen: Die grenzüberschreitenden Dimensionen wirtschaftsstrafrechtlicher Sachverhalte wurden, gegenüber den bereits bestehenden Ausführungen („Internationales Strafrecht“ / „Internationalisierung des Strafrechts“ (§ 4), „Wirtschaftsstrafrecht der Internationalen Organisationen“ (§ 5), „Europäisches Strafrecht“ (§ 6)), noch einmal erweitert. So liefert die 6. Auflage einen neuen Abschnitt zum „Ausländischen Wirtschaftsstrafrecht“ (§ 7; 32 Seiten), der „einen Einstieg in das Wirtschaftsstrafrecht ausgewählter Nachbarstaaten und wichtiger Handelspartner bieten will“ (Vorwort, VII). Zudem wurde der Bereich der Rechtshilfe („Grenzüberschreitende Bekämpfung“, § 8) aktualisiert. Beides ist ausdrücklich zu begrüßen. Zu Neubearbeitungen kam es insbesondere im Bereich der „Untreue“ (§ 32), der „Kapitalbeschaffung“ (§§ 27, 28, 50), der „Publizität der Rechnungslegung“ (§ 41) und der „Korruption“ (§ 53). Das AWG 2013 (Außenwirtschaftsgesetz vom 6.6.2013, BGBl. I 2013, 1482) machte eine Neufassung des Außenwirtschaftsrechts (§§ 15 C, 62, 73) erforderlich, die 8. GWB-Novelle und Neuerungen auf europäischer Ebene führten zu zahlreichen Änderungen im Abschnitt zum Kartellrecht (§§ 15 D, 57). Hinzu kommen fortgeführte Änderungen, die sich u.a. auf das Steuerrecht (§§ 43-46, 15 A, B) und das Umweltrecht (§ 54) beziehen. Einen Schwerpunkt der 6. Auflage bilden die Aktualisierungen des Teils „Unternehmensbeendigung“ (4.). Hier waren u.a. die Änderungen durch das „ESUG“ (Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (SanG) vom 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582) einzubinden. Es finden sich auch Ausführungen zum „ESUG II“ (vgl. § 75 Rz. 45). Insgesamt ist das Handbuch mit nun 3353 Seiten gegenüber der Vorauflage (2011) um rund 450 Seiten gewachsen.
Sehr bemerkenswert ist der Umgang mit kritischen Anmerkungen: Beispielsweise wird nun, anknüpfend an die Anregung von Bittmann (wistra 2011, 373, 374), eine zusammenfassende Behandlung der bisher verstreut erörterten Thematik „Compliance“ (§ 31; 20 Seiten) geboten. Diese Systematisierung ist u.E. sinnvoll; wünschenswert wäre vielleicht noch ein Ausbau dieses Abschnitts, z.B. im Wege der Darstellung nationaler und internationaler (untergesetzlicher) Bestrebungen zur Schaffung einheitlicher Compliance-Standards (vgl. IDW PS 980 / ISO 19600). Willkommen wäre auch ein eigenständiges Kapitel zum Thema „Internal Investigations“ (vgl. hierzu § 31 Rz. 28 und § 93 Rz. 47), wenngleich ein solches Unterfangen im Hinblick auf den bereits bestehenden Umfang des Werks (3353 Seiten) kaum realisierbar erscheint.
Zu den Besonderheiten des Werks: Das Handbuch klammert, entgegen dem „klassischen“ Verständnis des Begriffs „Wirtschaftsstrafrecht“ (vgl. hierzu die Ausführungen in der Besprechung des Werks von Achenbach / Ransiek / Rönnau: http://dierezensenten.blogspot.de/2015/12/rezension-strafrecht-handbuch.html), die Bereiche Steuerstrafrecht und Umweltstrafrecht nicht aus. Darüber hinaus wird ein „Allgemeiner Teil“ des Wirtschaftsstrafrechts geboten (§§ 17-21), wobei einzelne Problemfelder z.T. recht knapp dargestellt werden (vgl. hierzu Kudlich, ZIS 2007, 192, 192). Hierdurch wird jedoch der positive Gesamteindruck dieses – in wirtschaftsstrafrechtlichen Handbüchern eher selten anzutreffenden – eigenständigen Teils nicht geschmälert, zumal an jeder Stelle zahlreiche Vertiefungshinweise gegeben werden. Eine Besonderheit des Werks ist ferner die sehr ausführliche und durchweg hilfreiche Darstellung der Grundlagen, beispielsweise im Handels-, Gesellschafts- und Gewerberecht (§§ 22-25) sowie im Bereich des Rechnungswesens (§ 26) oder der Kapitalbeschaffung (§ 27).
Fazit: Auch die 6. Auflage bietet einen überzeugenden, praxisbezogenen Einstieg in das Phänomen Wirtschaftsstrafrecht unter Einbeziehung der sonst in vergleichbaren Handbüchern ausgeklammerten Bereiche des Steuer- und Umweltstrafrechts. Das Handbuch bleibt insgesamt seiner Zielsetzung treu, „den dynamischen und außerordentlich vielschichtigen Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ‚aus der Praxis für die Praxis‘ in einem übersichtlichen Rahmen darstellen“ zu wollen. Für beratende Berufe (z.B. Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) bietet es zudem einen Einblick in insbesondere staatsanwaltschaftliche Blickrichtungen auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte. Es gehört mit einem nahezu dreißigjährigen Erfahrungsschatz zu den Standardwerken wirtschaftsstrafrechtlicher Literatur, und dürfte daher wohl Teil der Bibliothek sämtlicher Praktiker im Wirtschaftsstrafecht sein.