Gehm, Kompendium Steuerstrafrecht mit Steuerordnungswidrigkeiten- und Verfahrensrecht, 2. Auflage, Erich Schmidt 2015
Von RA Thorsten Franke-Roericht, LL.M. Wirtschaftsstrafrecht, Frankfurt am Main
Drei Jahre nach der Erstauflage ist nun die zweite, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage des „Kompendium Steuerstrafrecht“ von Gehm erschienen. Dabei ist das Werk nicht nur im Format gewachsen, es hat auch an Umfang zugelegt. Das Grundanliegen des Autors blieb hingegen unverändert: Praktikern einen Überblick zur Materie des Steuerstrafrechts sowie des Steuerordnungswidrigkeitenrechts inklusive des jeweiligen Verfahrensrechts zu geben. Zur Veranschaulichung setzt Gehm praxisorientierte Fallbeispiele ein.
Das Werk ist jedoch mehr als „bloße“ Praktikerliteratur. Es bietet einen gelungenen Spagat zwischen Praxis und Theorie. Auch ist der Titel „Kompendium“ – laut Duden als „Abriss“ zu verstehen – irreführend: 516 Seiten und 3278 Fußnoten mit einer Fülle von weiterführender Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und Literatur zeugen von der Ambition des Autors, mehr als einen „Abriss“ der Materie leisten zu wollen. Insgesamt spiegelt die Konzeption des Werks die Expertise des Autors wider: Dr. iur. Matthias H. Gehm ist einerseits Steuerjurist in der Finanzverwaltung, andererseits Lehrbeauftragter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Zudem ist Gehm als Verfasser zahlreicher steuer- und steuerstrafrechtlicher Fachpublikationen bekannt.
Dass eine Neuauflage notwendig wurde, belegen folgende ausgewählte Entwicklungen (vgl. „Vorwort zur 2. Auflage“): Das „Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung“ (vom 22.12.2014, BGBl. I 2415) führte zu z.T. gravierenden Änderungen des Rechts der Selbstanzeige; die Europäisierung des Steuerstrafrechts schreitet voran, verantwortlich zeichnet u.a. der EuGH (vom 26.2.2013 – Rs. C-617/10), der insofern seine Rechtsprechungskompetenz proklamiert; der 1. Strafsenat des BGH sah sich erneut veranlasst, zu grundlegenden Fragen des Steuerstrafrechts Stellung zu nehmen (vgl. zB vom 9.4.2013 – 1 StR 586/12). Gehm legt mit seinem „Kompendium“ damit das erste Werk des Jahres 2015 vor, das sich eingehend mit dem ab dem 1.1.2015 geltenden neuen Recht der Selbstanzeige (§ 371 AO) und des Absehens von Strafverfolgung in besonderen Fällen (§ 398a AO) befasst.
Zum Inhalt: Der Autor setzt sich in insgesamt 18 Kapiteln in gewohnter Güte mit den materiellen und verfahrensrechtlichen Grundlagen und Fragen des Steuerstrafrechts sowie des Steuerordnungswidrigkeitenrechts auseinander. Exemplarisch seien zwei Themen herausgehoben: Nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO begeht Steuerhinterziehung durch Unterlassen, wer die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Hierzu urteilte der BGH (vom 9.4.2013, a.a.O.) nunmehr, das Delikt sei ein in Bezug auf den Täterkreis unbeschränktes Allgemeindelikt; es könne von “Jedermann“ verwirklicht werden– also nicht nur vom Steuerpflichtigen oder Personen, denen sonst in den Steuergesetzen steuerliche Erklärungspflichten auferlegt sind (vgl. §§ 34, 35 AO). Demgegenüber ging die ständige BGH-Rechtsprechung sowie herrschende Ansicht in der Literatur bislang von einem Sonderdelikt – sprich: begrenzten Täterkreis – aus. Trotz der neuen Qualifizierung als Allgemeindelikt hält der BGH jedoch daran fest, Täter einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO könne nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist. Diese Ausführungen zur Deliktsstruktur und zum Täterkreis sorgen nach wie vor für Irritationen. Gehmbefasst sich daher näher mit dem Urteil und den möglichen Folgerungen hieraus (Seite 61 f.).
Sein Fazit: 1. Derzeit sei nicht erkennbar, ob der Täterkreis im Hinblick auf § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO von der Rechtsprechung ausgedehnt werden wird. Der BGH habe jedenfalls „(noch) gar keine Trendwende eingeleitet, sondern nur die juristische Begrifflichkeit in Bezug auf § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO korrigiert.“
2.: Die Selbstanzeige wurde mit Wirkung zum 1.1.2015 reformiert. Während bereits die letzte Reform (2011) unzählige Fragen aufwarf, die zT bis heute nicht geklärt sind, kommen nun neue Vorgaben hinzu, die zusätzliche Unsicherheiten in Praxis und Wissenschaft erzeugen. Gehm nimmt zu diesen neuen Fragen ausführlich Stellung.
Ein Beispiel: Nach der nunmehr geltenden Fassung des § 371 Abs. 1 S. 2 AO müssen im Rahmen einer Selbstanzeige „Angaben…mindestens…zu allen Steuerstraftaten einer Steuerart innerhalb der letzten zehn Kalenderjahre erfolgen.“ Was unter „innerhalb der letzten zehn Kalenderjahre“ verstanden werden muss, ist ungeklärt. Gehm stellt allein vier mögliche Interpretationen inkl. zweier Abwandlungen vor (Seite 473 ff.). Er liefert damit einen wertvollen Beitrag zur möglichen Konturierung der begrifflichen Unklarheiten.
Ausgewähltes zu den Formalia:
1.: Während das neue Selbstanzeigerecht ein eigenständiges Kapitel (18.) erhalten hat, sind die zwei Vorgängerregime inkl. einer Einführung im 1. Kapitel („Die Steuerhinterziehung nach § 370 AO“) als Unterpunkte eingegliedert (vgl. unter 1.4.5). Diese „räumliche“ Trennung ist hilfreich, da man im Rahmen der Recherche sonst sehr schnell im falschen Regime landen könnte.
2.: Bereits bei der Erstauflage griff man auf exzessive Hervorhebungen des Textes durch Fettdruck zurück. Das setzt sich in der 2. Auflage leider fort. Es existieren Seiten, die – gefühlt – zu 1/2 mit Fettdruck versehen wurden (vgl. z.B. Seiten 54, 64, 118, 126, 133, 135, 196, 197, 223, 246). War es Ziel, damit auf besonders wichtige Passagen hinzuweisen, ist das Gegenteil eingetreten: weil alles wichtig zu sein scheint, ist nichts mehr als wichtig wahrnehmbar.
3.: Dass das numerische Gliederungssystem (im Erich Schmidt Verlag üblich) verwendet wird, mag jedenfalls Juristen (hier ist das alphanumerische System Standard) anfangs irritieren. Was m.E. allerdings sämtliche Leser irritieren wird, ist die Entscheidung, eine Untergliederung wie beispielsweise „2.3.1.1.1.1“ zu verwenden. Das schadet der Übersichtlichkeit.
Fazit: Gehmknüpft mit der 2. Auflage erfolgreich an die bereits überzeugende Erstauflage an. „Kompendium Steuerstrafrecht“ ist einerseits kein reines Beraterhandbuch, das sich auf höchstrichterliche Rechtsprechung und (vermeintlich) herrschende Ansichten in der Literatur beschränkt, andererseits ist es kein Lehrbuch im klassischen Sinne. Dem Autor ist es gelungen, eine schlüssige Melange aus beiden Welten – Praxis und Theorie – im heiß umkämpften Markt steuerstrafrechtlicher Publikationen zu etablieren. Das Werk kann daher nicht nur Praktikern (Rechtsanwälten, Steuerberatern, Angehörigen der Finanzverwaltung, Staatsanwälten, Richtern usw.) empfohlen werden, sondern auch ambitionierten Studenten, die sich über das Grundlagenwissen hinaus Ansätze der steuerstrafrechtlichen Praxis aneignen wollen.