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Rezension Öffentliches Recht: Grundrechtecharta

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Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Auflage, Nomos 2014

Von Arian Nazari-Khanachayi, Frankfurt am Main


Das nationale Recht wird zunehmend von unionsrechtlichen Vorgaben durchtränkt: So geht das Primärrecht insbesondere für Fälle mit grenzüberschreitendem Bezug wegen des Anwendungsvorrangs dem nationalen Recht im einschlägigen Bereich vor; das Sekundärrecht harmonisiert immer mehr Bereiche des nationalen Rechts. Schaut man nun vor diesem Hintergrund auf Art. 51 Abs. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GRC; Abl. v. 26.10.2012 Nr. C 326, S. 391 ff.) mit einem Anwendungsauftrag an die Mitgliedstaaten bezüglich der Chartagrundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts, so wird die Bedeutung der GRC deutlich (dazu sogleich noch mehr). Doch die GRC ist erst mit dem Lissaboner-Vertrag, damit erst seit dem 01.12.2009 in Kraft, sodass sich die Auslegung der einzelnen Vorschriften und Etablierung allgemeiner Lehren im dynamischen Fluss befinden (vgl. auch Vorwort). Daher ist es besonders begrüßenswert, dass Prof. Dr. Jürgen Meyer (Hrsg.), Delegierter des Deutschen Bundestages im Grundrechtskonvent und im Verfassungskonvent der Europäischen Union und Rechtsanwalt/Professor in Freiburg, seine Kommentierung zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der Neuauflage präsentiert.

Der Herausgeber hat für seine Kommentierung sechs namhafte Autoren aus Wissenschaft und Praxis gewinnen können, die ihren immensen Erfahrungsschatz in dieses Werk hineinbringen. Insofern haben die Autoren die Möglichkeit, im Wege des rechtsvergleichenden Zugriffs ihre Erfahrung einzusetzen, um so detaillierte Unterschiede in den einzelnen Rechtsordnungen darstellen und hieraus Schlüsse ableiten zu können: So wird etwa der Begriff der Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC auch im Lichte einer rechtsvergleichenden Analyse betrachtet, mit der Schlussfolgerung, die Wesensgehaltsgarantie – als absoluter Schutz des Kerngehalts der Grundrechte – sei inzwischen ein „gemeineuropäische[s] Verfassungsprinzip“ (ausführlicher hierzu Borowsky, Art. 52 Rn. 23a).

Daneben besticht das Werk freilich aus zweierlei anderen Gründen: Zum einen zeichnet sich das Werk durch eine besondere Aktualität aus (Stand: Ende 2013; vgl. Vorwort). Gerade dieser Umstand ist für die Anwendung und das Verständnis der GRC von besonderer Relevanz. So ist etwa das Eingangs genannte Anwendungsgebot des Art. 51 Abs. 1 GRC erst kürzlich Gegenstand eines Judikats des EUGH (siehe für diese terminologische Klarstellung Peukert, Argumentationsmuster in der Rechtsprechung des EuGH/EUGH, Vortrag v. 13.03.2014 auf der GRUR-Mitgliederversammlung, Frankfurt a.M., abrufbar unter http://www.jura.uni-frankfurt.de/49941114/14-03-13-Peukert-GRUR-Frankfurt-EUGH.pdf, zuletzt aufgerufen am 24.07.2014) gewesen. Denn gerade der Begriff der Durchführung des Rechts der Union in Art. 51 Abs. 1 GRC muss im Wege der Auslegung einer Konkretisierung zugeführt werden. Der EUGH hat in seinem Akerberg Fransson-Urteil judiziert, die Charta gelte für die Mitgliedstaaten in „unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen“ (Urt. v. 26.02.2013 – C-617/10, Rn. 19). Bei der Konkretisierung der „unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“ hielt sich der EUGH zwar zurück, doch in der Neuauflage der Kommentierung befindet sich eine überzeugende Einteilung in drei Fallgestaltungen: 1. Normative Durchführung des Unionsrecht, 2. Durchführung von Verordnungen, mitgliedstaatlichen Handlungen mit Schutzerweiterung oder -einengung im Bereich der Grundfreiheiten und 3. „im Lichte des Unionsrechts zu beurteilende Sachverhalte“ (gemeint sind vermutlich grenzüberschreitende Konstellationen oder solche mit Auswirkung auf den Binnenmarkt) (ausführlich hierzu Borowsky, Vor Titel VII Rn. 30 i. V. m. Art. 51 Rn. 25 ff.). Zum anderen ist die besondere Herangehensweise eine große – inhaltliche – Stärke des Werkes. Denn die jeweiligen Kommentatoren beginnen ihre Kommentierung stets mit einer Illustration der Entstehung der jeweiligen Vorschrift im Grundrechtskonvent. Auf diese Weise kann die Kommentierung stark an die Entstehungsgeschichte einerseits und am Willen der „Chartageber“ andererseits angeknüpft werden. Diese Darstellungsweise eröffnet den Autoren den Weg für eine überzeugungskräftige Auslegungsvorgehensweise, werden die einzelnen Ergebnisse doch gerade hierdurch stets an bereits geäußerte Vorstellungen gekoppelt. Als Beispiel kann hier die Erklärung der Einschränkungsmöglichkeiten des geistiges Eigentums dienen: Im Grundrechtskonvent kam die Diskussion um die Sozialbindung des Eigentums auf, sodass sich vor diesem Hintergrund – und mit Blick darauf, dass die Schranke des Art. 17 Abs. 1 auch auf Abs. 2 GRC bezieht – die Einschränkbarkeit des geistigen Eigentums im Wege einer gesetzlichen Regelung zum Wohl der Allgemeinheit erklären lässt (hierzu ausführlicher Bernsdorff, Art. 17 Rn. 12 i. V. m. Rn. 19).

Endlich bleibt in formaler Hinsicht festzuhalten, dass alle Autoren im Werk auf eine klare Darstellung und präzise Sprache bedacht sind. Zudem wird auf einem wissenschaftlich anspruchsvollen Niveau gearbeitet, welches sich insbesondere sowohl im umfangreichen Fußnotenapparat als auch an den Literaturübersichten zeigt, die jeder Einzelkommentierung nachgestellt sind. Des Weiteren ist die stete Berücksichtigung der Rechtsprechung sowohl auf supranationaler als auch auf nationaler Ebene besonders zu loben.

Die Neuauflage der Kommentierung von Prof. Dr. Jürgen Meyerist exzellent gelungen und insbesondere wegen der hohen Aktualität begrüßenswert. Vor dem Hintergrund der immensen und dynamischen Bedeutungszunahme der GRC ist ein gesamtsystematisches Verständnis der Charta für jeden Juristen unerlässlich. Zudem muss das Rechtspersonalselbst in der Lage sein, in der täglichen Anwendungs- und ggf. Fortbildungspraxis, die Chartagrundrechte im hinreichenden Umfang zu berücksichtigen. Genau in diesem Bereich ist das Werk von Meyer von hohem Wert. Daher muss die Kommentierung jedem Juristen, insbesondere dem praktisch tätigen Rechtspersonal, ohne Einschränkung und dringend empfohlen werden.

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