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Rezension Zivilrecht: Materielles Recht im Zivilprozess

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Tempel / Graßnack / Kosziol / Seyderhelm, Materielles Recht im Zivilprozess, 6. Auflage, C.H. Beck 2014

Von Ref. iur. Arian Nazari-Khanachayi, Frankfurt a.M.


Es ist wohl eine Selbstverständlichkeit, dass das materielle Recht auch im Rahmen des Referendariats eine große Rolle spielt. Auch sollte es dem aufmerksamen Juristen nicht entgangen sein, dass das Recht ständigem Wandel unterliegt, sei es durch neuerliche Gesetzgebung auf supranationaler und/oder nationaler Ebene, sei es durch die Rechtsprechung. Daher dürfte es dem Selbstanspruch ambitionierter Referendare nicht genügen, sich auf die im Studium erlernten „Wissensinseln“ auszuruhen, sondern es sollte einerseits das Gesamtsystem verstanden, damit verinnerlicht sein und andererseits die aktuelle Entwicklung nicht aus dem Auge gelassen werden. Eine besonders große Hilfestellung in diesem Zusammenhang liefert das Werk zum materiellen Recht im Zivilprozess von Dr. Otto Tempel (Begründer), ehemals vorsitzender Richter am Landgericht Frankfurt a.M., Christiane Graßnack, Richterin am Oberlandesgericht Köln, Frank Kosziol, Richter am Bundesgerichtshof, und Dr. Bernhard Seyderhelm, vorsitzender Richter am Landgericht Frankfurt a.M.

Auf 628 Seiten präsentieren die Autoren das im Zivilprozess besonders relevante materielle Recht vor dem Hintergrund der in der Praxis am häufigsten auftretenden Lebenssachverhalte (vgl. auch Vorwort). Ausgehend von diesen Sachverhaltskonstellationen werden die jeweils einschlägigen Anspruchsgrundlagen und die damit zusammenhängenden Voraussetzungen unter Berücksichtigung der potentiell gewichtigsten Varianten dargestellt. Dabei enthält das Werk einen ausführlichen Fußnotenapparat, worin vornehmlich die einschlägige Rechtsprechung aufgenommen wird, ohne dabei die Literatur zu vernachlässigen. Ansonsten überzeugt das Werk in formaler Hinsicht durch eine besonders ansprechende, weil klar und verständliche Sprache. Das Werk ist zudem höchst aktuell und beinhaltet dem Vorwort der Verfasser entsprechend u.a. Ausführungen zu den durch das Mietrechtsänderungsgesetz v. 01.05.2013 erwirkten Neuerungen (vgl. etwa S. 147 Rn. 19). Darüber hinaus erfährt sowohl die aktuelle Rechtsprechung (vgl. etwa S. 151 Fn. 116) als auch Literatur (vgl. etwa S. 182 Fn. 291) eine vorzügliche Berücksichtigung.

Das Werk besticht inhaltlich vornehmlich durch die besondere Darstellung des materiellen Rechts, welches sich – wie vorstehend bereits angedeutet – nach den praxisbezogenen Bedürfnissen von Referendaren, aber auch nach denen von Berufsanfängern richtet: Demzufolge wird das materielle Recht nicht abstrakt, sondern stets ausgehend von möglichen Sachverhaltskonstellationen erläutert, was freilich nicht bedeutet, dass das Werk aus der Lösung einer Vielzahl von  „Fällchen“ besteht. Beispielsweise wird im Rahmen der „Abwicklung des vorzeitig beendeten Bauvertrages“ zunächst darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen der Vergütung für bereits erbrachte und der noch nicht erbrachten Leistung vorzunehmen ist (S. 305 Rn. 1). Ausgehend von dieser zeitlichen Differenzierung werden sodann die unterschiedlichen Varianten einer Beendigung diskutiert: Freie Kündigung (§ 649 Abs. 1 BGB) oder Kündigung aus wichtigem Grund, jeweils durch den Auftraggeber. Sodann werden die Rechte des Auftragnehmers bei Beendigung des Vertrages vorgestellt, ehe auf die Konstellation des gemeinsamen Aufhebens des Vertrages eingegangen wird (vgl. zu allem S. 305 ff. Rn. 4 ff.). Diese Methode der Verfasser erlangt in § 30 über die Einwendungen des Schädigers (S. 492 ff. Rn. 1 ff.) ihren erfreulichen Höhepunkt: Anknüpfend an mögliche Verteidigungsmittel des Schädigers (e.g. § 254 Abs. 1 u. 2 Satz 1 BGB oder etwaige Haftungserleichterungen) wird zwischen den Subjekten, Objekten und der zeitlichen Abfolge einer Anspruchskonstellation differenziert und die jeweils einschlägige Einwendung vorgestellt. Hierbei bleiben die Verfasser entgegen der Paragraphenüberschrift nicht stehen, sondern illustrieren auch etwaige Einreden des Schädigers (vgl. hierzu S. 512 ff. Rn. 66 ff.). Dem aufmerksamen Leser wird diese Herangehensweise von anderen Werken aus dem universitären Studium bekannt sein. Der Vorzug dieser Darstellungsweise besteht zum einen darin, dass die Materie – im Gegensatz zu den meisten Fallbüchern – mit der gebotenen Abstraktion präsentiert, folglich die Transferleistung auf andere Lebenssachverhalte erleichtert wird. Zum anderen ist dieser Stil besonders zu loben, weil es dem Leser die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte präsentiert, die sich beispielsweise durch die Veränderungen des anspruchsstellenden Rechtssubjekts oder dem veränderten Zeitpunkt der Anspruchsstellung ergeben.

Die inhaltlichen Vorzüge des Werkes zeigen sich darüber hinaus anhand zweier anderer Aspekte. Auf der einen Seite ist das Werk besonders an den Stellen lobenswert, an denen das materielle Recht mit prozessualen Vorschriften zusammengeführt wird: So wird bei der Erläuterung des Schadensersatzanspruches wegen eines anfänglich unbehebbaren Mangels auf die Beweisregel des § 311a Abs. 2 Satz 2 BGB Bezug genommen. Diese wird sodann unter Verweis auf die prozessual notwendigen Beweiserbringungsgrundsätze (i.e. Vollbeweis i.S.d. § 292 ZPO) vorgestellt (näher hierzu S. 26 Rn. 80; vgl. für ein anderes, in diese Richtung gehendes Beispiel S. 48 Rn. 154a a.E. bei Fn. 515). Dem Leser wird auf diese Weise das Ineinandergreifen materieller und prozessualer Vorschriften verdeutlicht, mithin deren Erfassen erleichtert. Zum anderen aber – und das hebt das Werk ganz besonders hervor – zeigt das Werk nicht nur das für die Praxis besonders relevante materielle Recht auf, sondern liefert stets einige prozessuale Fragen mit direktem Bezug zu den materiell-rechtlichen Ausführungen. Beispielsweise werden die Ausführungen über die vertraglichen Ansprüche mit einem Abschnitt über „prozessuale Fragen“ abgeschlossen, wobei dem Leser mit Bezug auf den jeweiligen Anspruch dargeboten wird, wo beispielsweise das örtlich zuständige Gericht liegt, wie der Klageantrag zu formulieren ist und wer die Beweis- und Darlegungslast trägt (vgl. S. 55 ff. Rn. 178 ff.).

Ein weiteres Beispiel für diese Darstellungsweise können die Ausführungen zum Wohnraummietrecht darstellen. Der Leser erfährt hierbei, dass der Mieter im Zusammenhang mit einem ohne Rechtsgrund geleisteten Mietzins (etwa weil dem Mieter ein Minderungsrecht zustand) sowohl eine Klage auf Rückforderung als auch eine Feststellungsklage hinsichtlich der Mietminderung nach § 256 Abs. 1 ZPO erheben kann, ohne den Minderungsbetrag beziffern zu müssen; wiederum werden hinsichtlich des Minderungsbetrages die unterschiedlichen Ansichten präsentiert (näher hierzu S. 153 Rn. 36 f.). Auf diese Weise werden dem Leser unter Hinweis auf die obergerichtliche und höchstrichterliche Rechtsprechung und einschlägige Literatur die jeweils anerkannten Ergebnisse vorgegeben, was die „Subsumtionsarbeit“ erleichtert. Hierbei werden umstrittene Einzelfragen ebenso wenig wie andere Lösungsmöglichkeiten je nach Veränderung des Anknüpfungspunktes außen vor gelassen. Da die Verfasser diese Vorgehensweise dem gesamten Werk zugrunde legen, werden die prozessualen Besonderheiten der jeweiligen materiell-rechtlichen Inhalte besonders lernfreundlich illustriert. Zudem dürften aufmerksame Leser hierdurch ein Gefühl dafür entwickeln, welche Veränderungen der materiell-rechtlichen Fragen Folgen im prozessualen Bereich nach sich ziehen.

Es bleibt folglich festzuhalten, dass die Neuauflage des Werkes von Tempel/Graßnack/Kosziol/Seyderhelm eine für Referendare besondere Illustration des materiellen Rechts im Zivilprozess darbietet. Nicht nur die stete Berücksichtigung der praxisbezogenen Sachverhaltsvarianten, sondern die starke Verflechtung des materiellen mit dem prozessualen Recht heben das Werk besonders hervor. Darüber hinaus besticht das Werk durch die Einarbeitung sowohl der aktuellen Rechtslage und der höchstrichterlichen Rechtsprechung als auch der neuerlichen Literaturstimmen. Mithin sollte das Werk von Referendaren unbedingt herangezogen werden, um einerseits das (aktuelle) materielle Zivilrecht zu wiederholen und andererseits die jeweils prozessbezogenen Fragen im einschlägigen (materiell-rechtlichen) Zusammenhang zu erfassen. Auch Berufseinsteigern kann das Werk empfohlen werden.

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