Quantcast
Channel: Die Rezensenten
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717

Rezension: Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten

$
0
0

Nieder / Rieck / Losch / Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, 2. Auflage, Referenz 2024

Von RAin, FAin für Sozialrecht, Marianne Schörnig, Düsseldorf

Quelle: www.referenz-verlag.de

1. Inhalt des Buches, Autoren

„Die Feststellung des Grad der Behinderung (GdB) – Kommentar zur Versorgungsmedizin – Verordnung“, so der Untertitel. Die Versorgungsmedizin – Verordnung ist die entscheidende Vorschrift im Schwerbehindertenrecht. Die Verordnung selbst ist strenggenommen nur ein kurzer Text mit einigen Paragraphen. Entscheidend ist ihre Anlage: Diese besteht aus den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Hier wird die Brücke geschlagen zwischen abstraktem Gesetzestext (SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe) und den Voraussetzungen: Was muss ich eigentlich „tun“, um schwerbehindert zu sein? Ausschlaggebend für das Schwerbehindertenrecht sind medizinische Feststellungen. Die ist die Sache von Ärzten. Deren Umsetzung ist Sache von Juristen. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind in vier Teile gegliedert: Teil A = Gemeinsame Grundsätze (Was ist eine Schädigung? Wie wird der GdB gebildet (Stichwort „Gesamt – GdS“)? Wechselseitige Beziehung von Funktionsbeeinträchtigungen, Analogbewertung und Referenzwerte, ständige Rechtsprechung, Maßstab für die Feststellung einer Schwerbehinderung (GdB 50) bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen, Hilflosigkeit, Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit bei Kindern und Jugendlichen, Blindheit und hochgradige Sehbehinderung, wesentliche Änderung der Verhältnisse). Teil B: GdS Tabelle; Teil C Begutachtung im Sozialen Entschädigungsrecht; Teil D: Merkzeichen

Die Autoren dieses Buches sind ausnahmslos Mediziner. Die meisten von ihnen tragen entweder die Bezeichnung „Sozialmediziner“ oder sind in einer Behörde (z. B. Zentrum Bayern für Familie und Soziales) tätig. Beides untrügliche Anzeichen dafür, dass diese Ärzte im Berufsalltag mit dem Schwerbehindertenrecht befasst sind, also genau wissen, wie man medizinische Diagnosen liest und auf den jeweiligen Antragsteller anwendet. Sie sind mit dafür verantwortlich, welchen Grad der Behinderung eine Behörde feststellt. Dieses Buch verdeutlicht den Hintergrund für die Feststellung einer Behinderung.

2. Hauptthemen, Struktur, relevante Kapitel für die Zielgruppe

Im Aufbau orientiert sich das Buch an den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen, bietet aber daneben noch mehr an Hintergrund: Im Kapitel „Implementierung des bio-psycho-sozialen Modells“ beschäftigt sich Christa Rieck mit der Geschichte des Schwerbehindertenrechts von 1916 bis heute. Von der Befassung mit oftmals ad hoc erkennbaren Körperschäden (der Ursprung liegt bei den Kriegsinvaliden des ersten Weltkrieges) bis zu der immer rasanter wachsenden Zahl der seelischen Beeinträchtigungen. Ganz nebenbei wird der Paradigmenwechsel im Behindertenbegriff veranschaulicht: Früher war ein Mensch mit Behinderungen jemand, der an Defiziten litt, heute ist es ein Mensch, den seine Umwelt durch Barrieren behindert. In diesem Kapitel wird auch geschildert, was bei der Feststellung des GdB nun gerade nicht bewertet wird und warum nicht (z.B. Sehbeeinträchtigung wird mit Sehhilfe gemessen).

Es folgt der Text der Versorgungsmedizin – Verordnung sowie das Herz des Schwerbehindertenrechts, die Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Vorangestellt ist ein kurzes Kapitel von Losch und Nieder „Einführung und Hinweise zur Nutzung“. Man könnte das als subtile Kritik an der Mehrzahl der Leser werten: Die meisten Leser interessieren sich innerhalb der Versorgungsmedizin – Verordnung nur für die Versorgungsmedizinischen Grundsätze und lesen diese. Tatsächlich ist es aber unabdingbar, auch die anderen Teile zu kennen: Wie wird der Gesamt GdB gebildet? Warum gibt es Merkzeichen und warum wird „H“ (Hilflosigkeit) bei verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich bewertet? Dieser Teil A endet mit einer Literaturliste und einigen ausgewählten Aktenzeichen des BSG bzw. einiger LSGs („ausgewählt“, weil gefühlt das Schwerbehindertenrecht hundertmal so viele Urteile hat wie andere Sozialrechtsgebiete).

Der Akzent des Buches liegt auf Teil B der Versorgungsmedizinischen Grundsätze, der GdS -Tabelle. Sie ist das, was den meisten geläufig ist, die sich mit dem GdB befassen. Um die Darstellungsweise und Relevanz zu verdeutlichen, möchte ich hier exemplarisch drei Punkte herausgreifen.

A. Punkt 5.2 „Hörverlust“. Oft kommt ein Antragsteller / Mandantin /Kläger in die Beratung, präsentiert ein Tonaudiogramm und fragt entrüstet: „Ist dafür ein GdB von 20 gerecht? Ich höre doch gar nichts mehr!“ Der Berater wird dann konfrontiert mit einer Tabelle, die auf ihrer x-Achse „Hz“ hat, auf der y-Achse „dB“. Quer durch das Feld verläuft dann eine handgezeichnete Linie mit diversen Kreuzchen. Wer dieses Buch gelesen hat, wird nie mehr verständnislos auf das Schachbrettmuster starren, denn Losch hat darunter dankenswerterweise erklärt, wie daraus ein prozentualer Hörverlust errechnet wird. Oder noch besser: Er erklärt anhand der „3-Frequenztabelle nach Röser“, wie Hochtonverlust bei Lärmschwerhörigkeit berechnet und bewertet wird. Ähnlich verfährt er mit der Erläuterung eines Sprachaudiogramms und der Ermittlung des GdB aus den Schwerhörigkeitsgraden für beide Ohren.

B. Pkt. 15.1 „Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)“. In den Versorgungsmedizinischen Grund-sätzen werden unter Pkt. 5.1 die verschiedenen Grade der Behinderung bei Diabetes und ihre Definition genannt. Für Nicht-Mediziner ist diese Definition aber sehr abstrakt. Z.B. „Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20“. Aber was ist eine „Therapie, die eine Hypoglykämie auslösen kann“? Hier ist farblich gekennzeichnet davor zunächst eine kurze beispielhafte Erklärung „Das trifft zu bei einer Therapie mit Sulfonylharnstoffen, Gliniden und ein bis zwei Insulingaben sowie einer ergänzenden Insulintherapie mit Mischinsulinen ohne mindestens einmaliger, dokumentierter Blutzuckermessung am Tag“. Darunter kann man sich etwas vorstellen.

C. Pkt. 15.3 „Fettstoffwechselkrankheit“. Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze kommentieren hier „Der GdS ist grundsätzlich abhängig vom Ausmaß der Folgekrankheiten“. Im vorliegenden Kommentar folgen dann Beispiele, was alles infolge Adipositas betroffen sein kann: Abnutzungserscheinungen verschiedener Körpergelenke, physiologisch ungünstige Gewichtsbelastung, metabolische Störungen, etc.

Teil C der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist nur relevant für die gesetzliche Unfallversicherung und wird hier nicht erwähnt. Teil D behandelt Nachteilsausgleiche und Merkzeichen. Der Anhang behandelt „Erreichbarkeiten“. Internetadressen und -fundstellen von Gesetzen, Institutionen, Gerichten, Ministerien, verbände, Selbsthilfegruppen - eine Ansammlung von allem und allen, die mit Behinderten zu tun haben.

3. Fazit

Meines Wissens ist es das einzige Buch im Schwerbehindertenrecht, das ausschließlich von Medizinern bearbeitet, aber für medizinische Laien verständlich verfasst worden ist. Und es war allerhöchste Zeit! Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein so wichtiges Gebiet wie die Bildung des Grades der Behinderung hier ohne weitere Einwände Behörden überlassen wird, die immer ihren eigenen versorgungsmedizinischen Dienst haben und auf dessen Fachwissen zurückgreifen können. Der Berater / Anwalt ist in der Regel hilflos deren Einschätzung und Bewertung ausgeliefert. Er hat meistens nicht mehr als ein medizinisches Fachwörterbuch, oder, Google sei Dank, medizinische Lexika im Internet zur Verfügung. Mit der Zeit erwirbt der Nicht-Mediziner natürlich eine Routine; orthopädische oder seelische Erkrankungen kommen praktisch in jedem zweiten Fall vor. Aber man wird nicht jeden Tag mit einer Trachealstenose konfrontiert oder einer chronisch rezidivierenden Urtikaria. Gerade bei diesen im Tagesgeschäft unüblichen Erkrankungen leistet das Buch wertvolle Dienste. Aber auch bei häufig vorkommenden Eingriffen, z.B. Endoprothesen, ist es zu begrüßen, dass dem Laien der Unterschied Teil- und Totalendoprothese kurz und knapp erläutert wird. Darüber hinaus lassen sich die Erläuterungen auch im Recht der Rentenversicherung (Erwerbsminderung) einsetzen. Alles in allem gehört das Buch in jede juristische Bibliothek, die mit Sozialrecht zu tun hat.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717