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Rezension: SGB V

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v. Koppenfels-Spies / Wenner (Hrsg.), SGB V, Kommentar, 4. Auflage, Luchterhand 2022

Von RA'in, FA'in für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf

Lange Zeit sah es so aus, als ob das SGB V vom Spitzenplatz der meist -geänderten Sozialgesetzbücher verdrängt werden würde durch das SGB II (Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende). Tatsächlich sind im Zeitraum zwischen der Veröffentlichung der 3. und der jetzt 4. Auflage nicht viele gesetzliche Neuerungen eingetreten - aber der Eindruck täuscht. Denn es sind vielleicht nicht die neuen Gesetze wie das TSVG (Terminservice- und Versorgungsgesetz), die für Furore sorgen. Es war eher die Rechtsprechung, die sich gerade in Bezug auf den Anspruch auf Hilfsmittel weiterentwickelte bzw. den Aspekt des Behinderungsausgleichs, bedingt durch das Bundesteilhabegesetz, in den Vordergrund schob.

Der Verfasserkreis umfasst ein altbewährtes Team, bis auf Horst Marburger, der verstarb, ehe er seine Kommentierung abschließen konnte. Sein Part wurde kurzfristig übernommen von den Herausgebern.

Der Aufbau des Kommentares gliedert sich streng nach Gesetzestext. Der Paragraphentext ist fettgedruckt. Jede Kommentierung beginnt mit einem Inhaltsverzeichnis. Gerade das ist im SGB V sehr wichtig. Es gibt kein anderes Sozialgesetzbuch, das so viele Paragraphen aufweist (416, Einschübe wie §§ 137 – 137 k nicht mitgezählt), die teils bis zu elf Absätze aufweisen (§ 186). Textquellen – sowohl Literatur, Urteile als auch Bundestagsdrucksachen – sind mit Fußnoten gekennzeichnet und jeweils in der Fußzeile abgedruckt.

Die Aktualität der Quellen und die Art der Quellen schwanken stark: Z.B. die Kommentierung zu § 33 „Hilfsmittel“, bearbeitet von Dr. Pflugmacher, FA für Verwaltungs-recht und Medizinrecht. Hier werden m. E. die jüngsten Entwicklungen der letzten zwei, drei Jahre vernachlässigt. Der Fokus hat sich, beginnend mit den Urteilen des BSG von 2020, doch erweitert um die dritte Alternative des § 33 (Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung). Die Rechtsprechung hierzu befindet sich im Umbruch. Das zeigt sich am ehesten an der Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich. Der Unterschied ist mittlerweile aufgeweicht, vielleicht wird er irgendwann völlig aufgegeben. Hier: Kein Wort über die neuesten Entwicklungen. Stattdessen wird das geschrieben, was immer schon das Credo der Gerichte war. Dazu werden Urteile des BSG von 2009 (teilweise von 1999!) zitiert. Der Kommentator erwähnt an dieser Stelle den Fall der GPS – Uhr, der für die Entwicklung der BSG-Rechtsprechung ausschlaggebend war (BSG-Urteil vom 10.09.2020, B 3 KR 15/19 R), aber die Quelle gibt er nicht an.

Überhaupt verursacht die Angabe der Urteile leichte Bauchschmerzen. In der Kommentierung zu § 33 Abs. 2 – Sehhilfen – ist zwar ein Urteil des BSG von 2016 erwähnt, aber auch nur, weil sich die Rechtsprechung unmittelbar auf den Leistungsumfang auswirkte. Zitiert werden weiterhin BT-Drucksachen vornehmlich aus den Legislaturperioden 17 (2002 – 2005) und 18 (2005 – 2009). Zur Ehrenrettung kann man sagen, dass gerade was den Behinderungsausgleich angeht, in der Rechtsprechung nach wie vor der Grundgedanke „das haben wir immer schon so gemacht“ herrscht. Wozu soll man das Rad neu erfinden, wenn viele neuere Urteile die hergebrachte BSG-Rechtsprechung zitieren? Damit tut der Bearbeiter aber allen denjenigen erst- und zweitinstanzlichen RichterInnen Unrecht, die sich bemühen, neue Standards zu setzen.

Im Zusammenhang mit der Versorgung mit Hilfsmitteln steht § 139 über die Erstellung des Hilfsmittelverzeichnisses, kommentiert von den Bearbeitern Matthäus / Ulmer. Hier findet sich das schon erwähnte Urteil des BSG zur GPS-Uhr. Wesentlich abwechslungsreicher ist auch das Quellenverzeichnis, hier wird nicht nur BSG-Rechtsprechung verwendet, sondern auch Urteile zweiter Instanz, Aufsätze, BT-Drucks. Die zitierten Quellen sind auch durch die Bank aktueller als die in § 33.

Auf aktuellerem Stand ist auch die Kommentierung von Dr. Wiegand zu § 173 (Allgemeines Wahlrecht). Sie legt viel mehr Wert auf Literaturquellen als auf Rechtsprechung. § 173 wird mit schöner Regelmäßigkeit geändert, wobei sich aber nichts Grundlegendes tut. Interessant, dass gerade hier recht aktuelle Quellen (andere Kommentare, neuere BT-Drucksachen) verwendet werden.

Den Autoren (aus Justiz, Lehre und Verwaltung) merkt man an, dass sie jeweils aus ihrem Wirkungskreis berichten: RichterInnen befassen sich mit den besonders „klageträchtigen“ Paragraphen wie z.B. der Versicherungspflicht oder der Krankenbehandlung, Mitarbeiter aus der Verwaltung (logischerweise Kassenärztliche Vereinigung oder Krankenkasse) mit eher verwaltungstechnischen Angelegenheiten, die im gerichtlichen Alltag weniger eine Rolle spielen. Diese Zusammensetzung sorgt dafür, dass jeder den Teil bearbeitet, den er aus Erfahrung, aus der Praxis am besten beherrscht.

Ein Buch, dessen Außenmaße 18 x 25 x 8 cm sind und das weit über 1 kg wiegt, wird es in der digitalen Welt schwer haben. Der Verlag stellt auch keinen Internetlink oder zumindest eine CD-ROM zur Verfügung. Für den Transport zum Gericht ist es nicht geeignet. Auf jedem Schreibtisch nimmt es sehr viel Platz weg, so dass „Schnell mal etwas rausschreiben“ nicht in Frage kommt. Zudem sind Leser, die nicht gerade über Bizeps verfügen, im Nachteil (obwohl, mit dem Buch kann man Gewichte stemmen trainieren).

Sehr ärgerlich auch die Verpackung des Buches: Es kam in einem völlig überdimensionierten Pappkarton, die Hohlräume waren mit Plastikfolie gefüllt. Der Kommentar selbst ist in eine Folie eingeschweißt und noch dazu mit einem Schutzumschlag versehen. So etwas ist einfach nicht mehr zeitgemäß.

Schade, dass die mehr als unhandliche Aufmachung einige Leser abschrecken wird. Zumal das SGB V so schnell erweitert bzw. geändert wird, dass ein Kommentar auf Papier in einem großen Format unweigerlich ins Hintertreffen geraten wird. Diese Minuspunkte sind völlig überflüssig und rücken das ansonsten fundierte Werk in ein schlechtes Licht.

Die Vorauflage wurde hier zur Standardausstattung für jedes Anwaltsbüro gezählt. Was den Inhalt angeht, mag das zutreffen, aber schon vom Handling her stellt man das Buch einmal ins Regal und da bleibt es.


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