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Rezension: Der Dienstbetrieb ist nicht gestört

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Lahusen, Der Dienstbetrieb ist nicht gestört - Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948, 1. Auflage, C.H. Beck 2022

Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl

Bei der Bewertung dieser nachträglich für den allgemeinen Buchmarkt umgeschriebenen juristischen, dazu rechtsgeschichtlichen Habilitationsschrift weiß ich eigentlich gar nicht, wo ich zuerst anfangen soll, sodass ich mit einem kurzen Fazit beginnen möchte: es ist ein interessantes, spannendes, scharfzüngiges und für die Kaste der Juristen in höchstem Maße erhellendes Werk, das Benjamin Lahusen im Verlag C.H. Beck, wohlgemerkt im belletristischen Verlagsteil, unter das Volk bringt. Und: ich hätte nicht gedacht, mit wieviel Freude ich den Ausführungen, Entwicklungen und Erkenntnissen der knapp 300 Seiten folgen würde, als ich mit der Lektüre begonnen habe. Denn die ist zunächst ein wenig ernüchternd, wenn Lahusen schreibt, wie er vom juristischen Vorbereitungsdienst gelangweilt ist und beim Blättern in der ZPO auf sein Habilitationsthema stößt: den kriegsbedingten Stillstand der Justiz. Doch was sich dann in den folgenden sieben Kapiteln samt Epilog für die Leserinnen und Leser entfaltet, juristisch, historisch und auch sprachlich, das lässt nur den Schluss zu, dass sich die über ein Jahrzehnt dauernde Fleißarbeit in Archiven und Akten gelohnt und eine wirklich lesenswerte Untersuchung ergeben hat.

Dabei gelingt es Lahusen mit dem Untertitel „Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948“ nicht nur, sein eigentliches Untersuchungsthema zu platzieren, sondern auch den daneben geworfenen Blick auf den Juristen an sich und seine Bedeutung für die Gesellschaft – im Guten wie im Schlechten – zu erfassen. Und drittens wird durch Anekdoten, Verknüpfungen und Erläuterungen auch ganz allgemein das Justizsystem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs beschrieben, sodass man en passant auch viel allgemeines Wissen präsentiert bekommt. Dabei bleibt das Sujet nie abstrakt, sondern erarbeitet Grundlagen und Zusammenhänge oft anhand der aufgefundenen Fälle und Akten, aber auch angesichts einzelner Schicksale und Personen, sodass die Absurdität vieler Vorgänge dadurch erst so richtig plastisch wird. Hinzu kommt die sprachliche Schärfe und zugleich semantische Schönheit vieler Formulierungen, mit der Lahusen manche Situation gelungen distanziert darstellt, sich ironisch absetzt und die in sich ruhende Selbstgefälligkeit der Justiz analysiert, aber auch mit schwerem sprachlichem Geschütz die passenden Treffer landet, um einer wohldosierten Emotionalität Ausdruck zu verleihen. Hierzu sollen unten noch einige Zitate folgen, aber schon aus diesem Aspekt heraus war die Lektüre ein Erlebnis.

Was erwartet die Leserinnen und Leser inhaltlich? Zunächst eine Einführung, in der die Problematik der Normalität auf den Punkt gebracht wird. Denn nicht das Barbarische, Unmenschliche, Gewaltsame des Dritten Reichs war das einzige Problem, sondern das Herunterbrechen auf das Alltagsleben, auf die biedere Normalität der Akten, auf die Auslegung. Und nicht zuletzt trat die starrsinnige Eigensinnigkeit des Justizapparats hinzu, die sich (auch) in der Wegdefinition eines möglichen drohenden Stillstands der Rechtspflege ausdrückte: bloße äußere Ereignisse schreiben doch einem Gericht nicht vor, wann der Dienstbetrieb zum Erliegen käme.

Hiernach folgt das erste Kapitel zum Dienstbetrieb bei laufendem Kriegsszenario. Zu den hochstilisierten Beamtenpflichten, zur angeblichen Leuchtturmfunktion der kontinuierlichen Justiz. Im zweiten Kapitel wird das Schicksal eines fiktiven Amtsgerichts Neustadt seziert, mitsamt seiner auch geographisch bedingten inneren Unantastbarkeit gegen jegliche Selbstkritik, mit Justizprotagonisten, die sich ihrer Sache absolut sicher und sich am Ende doch selbst am nächsten sind. Das dritte Kapitel ist dem Amtsgericht Auschwitz und dem irrwitzigen Kampf um die Anwendung des deutschen Grundbuchrechts insbesondere für das Fabrikgelände der IG Farben gewidmet. Im folgenden vierten Kapitel kommen die Sondergerichte, insbesondere das in Aachen zur Sprache. Dies ist ein besonders erschütterndes Kapitel, da dort einer der Sonderrichter näher porträtiert wird, der nach dem Krieg ohne große Verluste wieder in den Richterdienst gelangen und jedenfalls lokal zu erheblicher Bedeutung aufsteigen konnte. Die entsprechende Betriebsblindheit des Apparats und das Kassieren der unliebsamen Vergangenheit ist ein echtes Armutszeugnis für alle Beteiligten.

Das fünfte Kapitel ist der Gerichtswanderung vorbehalten, der Zersplitterung und Auflösung der Gerichtsbezirke und dem bis zum Schluss erstaunlich weltfremden Umgang mit dem unübersehbar drohenden Verlust der Gerichtsgewalt in den dann ehemals eroberten Gebieten. Der Sommer 1945 und der (dann erst) tatsächlich eingetretene Stillstand der Rechtspflege dominiert das sechste Kapitel und zeigt sehr schön den Einfluss der vier Besatzungsmächte auf, die das Justizsystem unter ihre Fittiche nahmen und nur formal keinen Zweifel daran ließen, von nun an alles ändern zu wollen. Dass dies mit den tatsächlichen Erfordernissen und Umständen kollidieren musste, da man nicht auf einmal neue Menschen herbeizaubern konnte, war unschwer zu erkennen. Im Schlusskapitel geht Lahusen noch einmal auf das tatsächliche, aber nicht kriegs-, sondern nachkriegsbedingte Iustitium ein sowie die Problematik, wann ein Krieg eigentlich zu Ende ist und wie sich das Schicksal der Normen entwickelt, die mittelbar oder unmittelbar an den Kriegszustand geknüpft sind.

Im Epilog greift er wieder ein Narrativ des Beginns der Untersuchung auf, indem er die vermeintliche Normalität als das eigentliche Problem der (deutschen) Justiz erläutert (S. 300 v.a.). Dass noch ein oder zwei Seitenhiebe gegen Arbeiten enthalten sind, die sich ebenfalls, aber qualitativ fragwürdig mit dem Iustitium beschäftigt haben, sei dem Autor nach seiner jahrelangen akribischen Fleißarbeit gegönnt.

Zuletzt noch zur oben schon erwähnten sprachlichen Freude, die man bei der Lektüre entwickeln kann. Lahusen findet oftmals genau die richtigen Formulierungen, um Dinge oder Personen gleichsam treffend wie mit der gebotenen inneren Distanz zu charakterisieren und zugleich einzuordnen. Auch wenn dies manchmal ein wenig spöttisch gerät, wenn etwa der Staatsrechtler Carl Schmitt als „juristischer Borderliner“ (S. 295) gebrandmarkt wird, so passt es dennoch zum Kontext und wird zudem inhaltlich erläutert. Man kann dies dann jeweils dennoch unpassend finden, aber sollte in Erinnerung behalten, dass es sich hier gewissermaßen um ein Prosawerk handelt, bei welchem dem Autor auch sprachlich ein größerer Spielraum zuzugestehen ist als beim zugrunde liegenden wissenschaftlichen Hauptwerk.

Im Kapitel zum Amtsgericht Neustadt wird das Bedürfnis der Kleinstädter nach Reinheit und Ordnung auf die Schippe genommen (S. 95/96) und der örtliche Gerichtsverwalter (ob man ernstlich von einem Richter sprechen mag, sei jedem selbst überlassen) wird treffend beschrieben, indem Lahusen feststellt, dass nicht viel juristischer Sachverstand nötig war, um zu erkennen, dass dem Krieg keinerlei mietrechtliche Relevanz zukam. Im Kapitel zu Auschwitz konstatiert Lahusen (S. 112): „Im Grundbuch fand die deutsche Seele zu sich selbst.“ Treffend und zynisch zugleich. Und in der zu Recht abwertenden Beschreibung des Opportunisten Keutgen in Kapitel 3 teilt Lahusen fast schon fatalistisch mit (S. 147): „Für Reflexion, künstlerische Distanz, Zweifel gar konnte Keutgen schon deshalb keine Leidenschaft entwickeln, weil dies dem juristischen comme il faut widersprochen hätte. Meinungsfreude, Originalität, Brillanz sind in der Welt des Rechts keine tauglichen Währungen“.

Als im Rahmen der heranrückenden Alliierten die Gerichte reihenweise geräumt und belastende Bestände beseitigt werden mussten, wird die deutsche Justizseele auch noch mehrmals prächtig karikiert, teilweise durch eigene Handlungen, wenn etwa Vernichtungshandlungen noch protokolliert und auf dem Dienstweg nach oben gemeldet werden, obwohl zuvor die Devise ausgegeben worden war, die Behördenstandorte bis zuletzt zu halten. Lahusen kommentiert dies zutreffend (S. 213) als „Selbstwiderspruch, der Pflichtbewusstsein und Befehlsverweigerung kunstvoll miteinander verband“.

Ich könnte noch wenigstens ein Dutzend weiterer Passagen benennen und zitieren, die ich mir bei der Lektüre notiert hatte, aber das würde den Rahmen der Besprechung sprengen. Es bleibt aber auch ohne diese weiteren Zitate beim eingangs vorangeschickten Fazit: es handelt sich um ein hervorragendes, vielseitiges, gut lesbares, spannendes Werk, das ich nicht nur selbst mit großem Genuss gelesen habe, sondern dessen Lektüre ich auch jedem Richter im Staatsdienst zur Pflichtlektüre angedeihen lassen würde. Die Selbstvergewisserung in der täglichen, an der Verfassung und ihren Prinzipien ausgerichteten Arbeit muss immer wieder einmal erfolgen und zwar auch durch historische Vergleiche und Abgrenzung. Das gern im Zusammenhang mit dem Dritten Reich proklamierte „Nie wieder“ muss für Juristen dabei auch noch eine weitere Ebene erreichen, nämlich die des Dezernats: Normalität und Aktenarbeit darf nie rechtfertigen und auch nie darüber hinwegtäuschen, dass elementare Rechtsprinzipien außer Kraft gesetzt zu werden drohen. Gerade dieser Aspekt wird als zusätzliches Meta-Thema in Lahusens Untersuchung ganz hervorragend abgebildet, auf dass man sich ein Beispiel nehmen und innerhalb der Justiz den berechtigten Zweifel (und vieles mehr) als Leitprinzip wider die Konformität wählen mag.


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