Bestmann, Die Innenhaftung der Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft bei Kollegialentscheidungen – Unter besonderer Berücksichtigung der Business Judgement Rule, Nomos 2022
Von Ass. iur. Fabian Bünnemann, LL.M., LL.M., Essen
Die Vorstandshaftung bei Aktiengesellschaften ist ein stets lohnenswerter Untersuchungsgegenstand. Trotz der grundsätzlichen Durchdringung des Themas ergeben sich doch immer wieder interessante Facetten, die eine eingehendere Analyse gewinnbringend erscheinen lassen. Dies gilt auch für die kürzlich vorgelegte Arbeit von Katharina Bestmann mit dem Titel „Die Innenhaftung der Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft bei Kollegialentscheidungen“. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der mittlerweile in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG kodifizierten Business Judgement Rule, nach der eine Pflichtverletzung dann nicht vorliegt, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Insofern ist es folgerichtig, dass die im Jahr 2021 von der Universität Erfurt als Dissertation angenommene und nunmehr bei Nomos erschienene Arbeit den Untertitel „Unter besonderer Berücksichtigung der Business Judgement Rule“trägt.
Das vorliegende Druckwerk befindet sich, Rechtsprechung und Literatur betreffend, auf dem Stand von Sommer 2021. Es ist in zehn Teile gegliedert. Zunächst skizziert Bestmann die Ausgangslage sowie den Gang der sich anschließenden Untersuchung (A.). Sodann stellt die Verfasserin das gesetzliche Konzept der Innenhaftung von Vorstandsmitgliedern dar (B.).
Es folgt die grundsätzliche Klärung der Begrifflichkeit des „Kollegialorgans“ (C.), was für den Untersuchungsgegenstand der Haftung bei Kollegialentscheidungen naturgemäß elementarer Bestandteil ist. Dies zeigt sich sogleich an der Einordnung des aus mehreren Mitgliedern bestehenden Vorstands einer Aktiengesellschaft als ein derartiges Kollegialorgan (D.).
Sodann widmet sich die Verfasserin der Analyse der individuellen Pflichtverletzung bei Kollegialentscheidungen (E.). Da die Haftung stets auf der individuellen Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds beruht, eine Haftung für Pflichtverletzungen anderer Vorstandsmitglieder mithin nicht besteht (S. 224), ist die individuelle Pflichtverletzung besonders in den Blick zu nehmen. Hier zeigt sich die Wohlstrukturiertheit des Werks besonders deutlich. Fein aufgegliedert nach dem jeweiligen Verhalten des Vorstandsmitglieds (Zustimmung, Ablehnung, Enthaltung, Abwesenheit) erörtert Bestmann, ob daraus jeweils eine Pflichtverletzung des jeweiligen Vorstandsmitglieds folgt. Besonders gut gefallen hat mir hier die Auseinandersetzung mit der Pflichtverletzung des sog. „überstimmten Vorstandsmitglieds“ (S. 228 ff.). Zwar kommt die Verfasserin hier zu dem Ergebnis, dass bei einem rechtmäßigen Abstimmungsverhalten eines Vorstandsmitglieds bereits keine Pflichtverletzung angenommen werden kann (S. 229); jedoch erscheint es nicht vollends ausgeschlossen, dass in einem derartigen Fall noch weitere Pflichten hinzutreten können, um schließlich nicht haften zu müssen. Richtigerweise wird eine Pflicht zur Herbeiführung der Beschlussunfähigkeit des Kollegialorgans im Falle einer sich anbahnenden rechtswidrigen Kollegialentscheidung kurz wie prägnant abgelehnt (S. 230). Ist ein pflichtwidriger Beschluss allerdings zustande gekommen, kann sich hieraus für den „Überstimmten“ – und auch für ein sich enthaltendes Vorstandsmitglied (S. 253) – die Obliegenheit ergeben, gegen die Ausführung des Beschlusses vorzugehen (S. 231 ff.). Dabei differenziert Bestmann hier zwischen gesellschaftsinternen sowie -externen Maßnahmen. Die Maßnahmen müssen geeignet und zumutbar sein (S. 255), eine Klageerhebung zur Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Beschlusses lehnt die Verfasserin aber – jedenfalls in Form einer pauschalen Verpflichtung – ab (S. 252).
Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Business Judgement Rule bei Kollegialentscheidungen (F.). Bestmann arbeitet hier die besonderen Voraussetzungen für die Haftung heraus, die dadurch entstehen, dass ein Vorstandsmitglied nicht allein entscheidet, sondern sich an einer Kollegialentscheidung beteiligt. Insbesondere wird auch dargelegt, dass die Haftungsprivilegierung durch die Business Judgement Rule individuell zu beurteilen ist, mit der Folge, dass sie bei der gleichen Entscheidung zugunsten des einen Vorstandsmitglieds eingreifen, dem anderen Vorstandsmitglied hingegen versagt bleiben kann (S. 263). Hier ist vor allem zu berücksichtigen, ob die Entscheidung „auf einer adäquaten Informationsermittlung“ gründet (S. 269). Bestmann setzt sich dabei eingehend mit der Überprüfungspflicht durch die anderen Vorstandsmitglieder auseinander und verlangt im Ergebnis jedenfalls regelmäßig eine Überprüfung im Hinblick auf „Plausibilität und damit die inhaltliche Nachvollziehbarkeit und Widerspruchsfreiheit der zur Verfügung gestellten Informationen“ (S. 267). Wie sich Interessenkonflikte eines Vorstandsmitglieds (vgl. eing. hierzu kürzlich Meyer, Interessenkonflikte im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft, 2021, vgl. Besprechung hier im Blog) auf das Eingreifen der Business Judgement Rule bei Kollegialentscheidungen auswirken, sei zwar nicht gänzlich geklärt (S. 271); jedenfalls sei die Haftung bei Kollegialentscheidungen aber stets individuell zu beurteilen, sodass der Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds die Abstimmungsentscheidung der übrigen Vorstandsmitglieder nicht prägend einwirkt (S. 285).
Wenngleich es nicht den Schwerpunkt der Untersuchung bildet, so habe ich mich über den Teil „Weitere Aspekte der Innenhaftung bei Kollegialentscheidungen“ (G.) sehr gefreut, vervollständigt er doch das Gesamtbild. Bestmann geht hier in gebotener Kürze auf die Fragen des Verschuldens (S. 290), der Kausalität (S. 292) sowie der gesamtschuldnerischen Haftung gegenüber der Gesellschaft (S. 295) ein, erörtert die Voraussetzungen der gesamtschuldnerischen Haftung (S. 305) und skizziert anschließend noch die Vornahme des „Innenregresses“ zwischen den Mitgliedern des Vorstandes (S. 307 ff.) bzw. zwischen den Mitgliedern von Aufsichtsrat und Vorstand (S. 321).
Interessant für die Praxis erscheinen mir auch die Gestaltungsvorschläge (H.), die aus der Arbeit folgen, nach ihrer Lektüre aber auch „auf der Hand“ liegen. Einerseits schlägt Bestmann einen fortlaufenden Informationsaustausch der Vorstandsmitglieder vor, möglichst in Form regelmäßiger Besprechungen (S. 327), zudem – vor allem bei größeren Organen – die Einführung eines „IT- gestützten Management-Informationssystems“ (S. 328). Andererseits empfiehlt sie richtigerweise die „umfassende Dokumentation der Entscheidungsfindung“(S. 329).
Aus der Untersuchung heraus ergeben sich zudem Anregungen für eine Reform der Regelungen. Diesbezügliche Vorschläge unterbreitet Bestmann (I.) einerseits im Hinblick auf eine „Gesetzliche Konkretisierung der Geschäftsleiterpflichten“, andererseits hinsichtlich einer Begrenzung dieser Pflichten. Abschließend fasst die Autorin ihre Ergebnisse dann noch einmal in Thesen zusammen (J.).
Insgesamt ist das Werk überaus lesenswert, beginnend mit der Gliederung, die mir überaus gut gefallen hat. Überdies ist nicht zu übersehen, dass die Verfasserin keine Mühen ausgelassen hat, um die Ausführungen mit einem sehr fundierten, wissenschaftlichen Fußnotenapparat zu versehen – die Quellenauswertung beeindruckt mit ihrem Umfang. Naturgemäß handelt es sich hier nicht um ein Grundlagenwerk zur Vorstandshaftung oder zur Business Judgement Rule, sondern vielmehr um eine grundlegende Arbeit in der überaus praxisrelevanten Schnittstelle der Haftung bei Kollegialentscheidungen. Sie ist damit nicht nur für Vorstandsmitglieder in Aktiengesellschaften – sowie deren Justiziare und Berater – relevant, sondern auch für andere Kollegialorgane interessant. Zu denken ist hier etwa an mehrköpfige Vorstände von gesetzlichen Krankenkassen (§ 35a SGB IV), bei denen die Business Judgement Rule zwar keine Anwendung findet, die Grundsätze über die Haftung von Kollegialorganen aber gleichwohl bedeutend sind. So ist die Organisation der Orts-, Innungs-, Betriebskrankenkassen und Ersatzkassen doch mittlerweile der Organisation der Aktiengesellschaft in wesentlichen Aspekten nachgebildet (vgl. dazu etwa Balzer, NZS 1994, 1 [3]).
Nach alldem bleibt festzuhalten, dass Bestmann mit dem vorliegenden Werk eine überaus lesenswerte Untersuchung vorgelegt hat. Wer regelmäßig mit Kollegialentscheidungen – insbesondere bei Vorständen von Aktiengesellschaften – befasst ist, für den wird die Lektüre dieser Arbeit sehr gewinnbringend sein. Dies gilt sowohl für die grundsätzlichen Ausführungen zu Haftung, Kollegialorgan und Business Judgement Rule, aber auch für die tiefergehende Auseinandersetzung mit der individuellen Haftung des Vorstandsmitglieds.