Dau / Düwell / Joussen / Luik (Hrsg.), SGB IX Kommentar, 6. Auflage, Nomos 2022
Von RA'in, FA'in für Sozialrecht Marianne Schörnig
Die jetzt vorliegende 6. Auflage zeigt, was aus den gutgemeinten Ansätzen anlässlich der Reform des SGB IX geworden ist. Immerhin war das SGB IX 16 Jahre lang unauffällig; der bekannteste Teil war noch das Schwerbehindertenrecht. Mit Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes war Schluss mit dem Dornröschenschlaf. Aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention wurde das BTHG (nach 8 Jahren!) verabschiedet und das SGB IX in drei Reformstufen umgebaut. Dass es nicht so geworden ist wie sich der Gesetzgeber das vorstellte, wird an einigen Stellen deutlich. Es zeigt sich schon im Vorwort, mit dem die vier Herausgeber die 6. Auflage vorstellen: Von vier Seiten Vorwort sind zwei Seiten nur die Aufzählung der Änderungsgesetze, die von Juli 2018 bis Juli 2021 auf das SGB IX eingewirkt haben.
Als Herausgeber fungierten bisher schon Dirk Dau, Richter am Bundessozialgericht a.D., Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a.D., und Dr. Jacob Joussen, Ruhr Universität Bochum. Neu hinzugekommen ist Prof. Dr. Steffen Luik, Richter am Bundessozialgericht. Auch der Kreis der "üblichen Verdächtigen" ist erweitert worden durch Autoren, die sich nun einen Namen in der einschlägigen Literatur (durchaus nicht abwertend gemeint) gemacht haben: z.B. Prof. Dr. Reza F. Shafei. Gesetzesreformen erfordern neue Sichtweisen und bringen neben Gallionsfiguren (Aktivisten) auch neue Autoren hervor.
Wie alle Lehr- und Praxiskommentare wendet sich auch die Neuauflage an alle, die mit dem Recht der Rehabilitation behinderter Menschen im täglichen Berufsalltag konfrontiert sind. Hier hat sich mittlerweile schon Ernüchterung breitgemacht angesichts der mühsamen Umsetzung im Alltag. Dies sind nicht nur Rehabilitationsdienste und Rehabilitationseinrichtungen, sondern auch Personalabteilungen, Betriebsräte, Schwerbehindertenvertretungen und Einrichtungen der Fort- und Weiterbildung, Mitarbeiter der Renten- und Krankenversicherungsträger bis hin zu Rechtsanwälten und Richtern.
Der Lehr- und Praxiskommentar folgt in Aufbau und Gliederung dem bewährten Muster aller Lehr- und Praxiskommentare der Nomos-Reihe. Strikt an der Abfolge der Paragraphen des Gesetzestextes orientiert werden alle Vorschriften des SGB IX kommentiert. Als die Vorauflage rezensiert wurde, war der 2. Teil des SGB IX – das Eingliederungshilferecht – noch nicht in Kraft. Umso schöner, dass jetzt direkt die ersten Erfahrungen mit dem neuen SGB IX kommentiert werden können. "Nach der Reform ist vor der Reform", spöttelte ein anderer Autor in einem Buch über die Eingliederungshilfe, das noch vor dem ersten Umbau des SGB IX verfasst wurde. Wie Recht er hatte. Das SGB IX neuer Fassung ist gerade zwei Jahre alt, da wird eine Kernvorschrift bereits geändert: § 111 SGB IX, Leistungen zur Beschäftigung. Neben dem Budget für Arbeit hat der Gesetzgeber nun auch ein Budget für Ausbildung etabliert. Die Kommentatorin des § 111 – Dr. Zinsmeister - hält an dieser Stelle nicht mit ihrer Kritik hinter dem Berg: "Die insoweit unklare Gesetzeslage gefährdet nun erfolgreiche Ansätze zur Integration …", "Die Gesetzesmaterialien lassen nicht erkennen, [daß der Gesetzgeber] solch erfolgreichen trägerübergreifenden Förderansätzen die rechtliche Grundlage entziehen … wollte." Mit anderen Worten: Das SGB IX hat gute Chancen, dem SGB II den Rang um das kontroverseste (unausgegorene) Gesetzesvorhaben abzulaufen. Es gibt wahrscheinlich wenige Gesetzesvorhaben, die zwölf Jahre brauchten, bis sie umgesetzt werden konnten und dann immer noch eine wesentliche Zielgruppe verfehlten.
Wie immer ein Highlight sind die Gesetzestitel, mit denen Juristen jeden schüchternen Ansatz, sich verständlich auszudrücken, zunichtemachen. Oder was soll man halten von einem "Gesetz zur Förderung der Betriebsratswahlen und der Betriebsratsarbeit in einer digitalen Arbeitswelt" (Betriebsrätemodernisierungsgesetz)?
Der dritte Teil des SGB IX behandelt das Schwerbehindertenrecht, genauer: das Schwerbehindertenarbeitsrecht. Stück für Stück hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass gerade in diesem Gesetz Arbeits– und Sozialrecht zusammengehen. So enthält die Kommentierung zu § 166 (Inklusionsvereinbarung) ein Muster. In der Kommentierung zu § 167 (Prävention) wird anhand eines Diagramms der Ablauf eines BEM (eines betrieblichen Eingliederungsmanagements) dargestellt.
Zuzüglich zum SGB IX werden noch zwei weitere Gesetze kommentiert. Die Wahlordnung Schwerbehindertenvertretung (SchwbWVO) und das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG). Im Anhang abgedruckt ist der Text der UN-BRK von 2006. Darauf beruhen alle Reformen, ob nun die des SGB IX, des SGB XII, des BTHG, des BGG und bestimmt noch Dutzende anderer Gesetze. Daher ist es unverständlich, dass der Verlag diesen Gesetzestext auf dem Cover verschweigt und im Anhang versteckt. Das wird der überragenden Bedeutung, die die UN – BRK hatte und in Zukunft haben wird, nicht gerecht. Da ist es zu begrüßen, dass die Kommentatoren sich eingehend mit ihr, den Gesetzesmaterialien, Literatur und Rechtsprechung beschäftigen und die Quellen angeben. Eine Fundgrube!