Pretis, Teilhabeziele planen, formulieren und überprüfen, 1. Auflage, Reinhardt 2020
Von RAin, Fachanwältin für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf
Jeder, der sich mit Teilhabe beschäftigt und dieses Buch heranzieht, sollte sich zunächst klar darüber sein, dass der Schwerpunkt auf Kindern und Jugendlichen liegt. Zugegeben, der „Grundstock“ für Teilhabe von Menschen mit Behinderungen jeglichen Alters wird in Kindheit und Jugend gelegt. Je größer die frühe Förderung, desto größer ist und besser gelingt die Teilhabe. Eine intensive Frühförderung ist die Basis für jede, wie auch immer geartete Teilhabe. Allerdings hat es fast den Anschein, als wäre mit der Volljährigkeit bzw. spätestens Anfang der Zwanziger, die Entwicklung der Teilhabe abgeschlossen – zumindest, wenn man das Buch als Standardwerk nimmt. Aber auch Erwachsene, ja auch im Seniorenalter, haben Teilhabeziele. Und die UN-BRK propagiert als eines ihrer Ziele das lebenslange Lernen. Teilhabe an Bildung, um nur ein herausragendes Ziel zu nennen, endet nicht mit Beendigung der Schulausbildung. Der Verlag sollte – wenn auch nur im Untertitel – darauf hinweisen, dass das Buch (nur) eine bestimmte Zielgruppe im Auge hat. Problemkreise wie Teilhabe am Arbeitsleben, das Arbeitgebermodell etc. werden hier nicht thematisiert. Darauf kann man aber kommen, wenn man den Klappentext liest: Es geht um Teilhabeziele für Kinder und Jugendliche.
Der Autor ist Heilpädagoge und klinischer Psychologe. Als Professor lehrt er transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg. Pretis ist EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen und UNICEF Berater.
Wenn man diesen Klappentext liest zusammen mit der Vita des Autors, wird auch schnell klar, dass es kein juristisches Buch ist. Ziel ist nicht die juristische Definition von Teilhabe, nicht die Anspruchsgrundlage von Teilhabe, sondern die Herangehensweise von Heil- und Sozialpädagogen, Eltern und Erziehern. Dementsprechend sind auch die einzelnen Kapitel überschrieben: 1. Was ist Teilhabe? - 2. Was braucht Teilhabe? - 3. Von der Teilhabe zu Teilhabezielen - 4. „Teilhabeziele“ nach ICF - 5. Teilhabeziele evaluieren
Zusammengefasst: Allesamt Definitionen / Erklärungen, die Eltern / Erzieher / Pädagogen gelesen haben und kennen sollten, um sich dann darüber klar zu werden, welches Ziel (z.B. Kommunikation) sie mit welchem Mittel (z. B. Logopädie) erreichen wollen. Erst, wenn das (idealerweise) geklärt ist, beginnt die juristische Arbeit: Wer hat einen Anspruch? Wer ist der Antragsgegner? Wo ist die gesetzliche Grundlage?
In diesem Buch dreht sich alles um die ICF, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Der Vorläufer der ICF hat die sozialrechtliche Gesetzgebung ganz entscheidend geprägt (Sozialgesetzbuch (SGB), Neuntes Buch (IX), „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, von 2001).
Für Juristen ist es interessant unter dem Aspekt: „Um was geht es eigentlich?“ Mit dem Wortlaut des § 79 SGB IX zu heilpädagogischen Leistungen kann der Laie wenig anfangen. Umgekehrt ist das Zauberwort in dieser Anspruchsgrundlage „fachliche Erkenntnis“: „Heilpädagogische Leistungen werden … erbracht, wenn nach fachlicher Erkenntnis zu erwarten ist, dass hierdurch … eine drohende Behinderung abgewendet oder der fortschreitende Verlauf einer Behinderung verlangsamt wird oder … die Folgen einer Behinderung beseitigt oder gemildert werden können. Heilpädagogische Leistungen umfassen alle Maßnahmen, die zur Entwicklung des Kindes und zur Entfaltung seiner Persönlichkeit beitragen, einschließlich der jeweils erforderlichen nichtärztlichen therapeutischen, psychologischen, sonderpädagogischen, psychosozialen Leistungen…“
Was beinhaltet die „fachliche Erkenntnis“? Was sind die „erforderlichen Maßnahmen?“ Bevor der Anwalt in die Auseinandersetzung Antragsteller ./. Behörde eingreift, kann er/sie sich anhand dieses Buches orientieren. Hilfreich ist die Erläuterung von abstrakten Zusammenhängen wie „Teilhabeziel, Funktion, Umwelt“ anhand der Beispiele im Buch (z. B. S. 93: Beispiel eines lispelnden Jungen: welche Probleme stellen sich ihm? Was will er dagegen tun? Wie kann er sein Ziel erreichen?).
Die in dem Buch verwendeten Beispiele kann ein Anwalt auch gut verwenden, um in einer Rechtsberatung oder in Schriftsätzen abstrakte Begriffe wie „Indikatoren für WHO-Beurteilungsmerkmale“, „frequenzbezogener Anker“ zu erläutern.
Der Begriff „Teilhabe“ wird häufig geradezu inflationär verwendet. In diesem Buch wird endlich erläutert, was dahinter steckt. Es sollte in jeder EUTB stehen.