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Rezension Strafrecht: Kriminologie

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Bock, Kriminologie, 4. Auflage, Vahlen 2013

Von RAin Anika Rühl, Homburg


Die Kriminologie ist zwar gerade für den juristischen Praktiker, der strafrechtlich ausgerichtet ist, eine Art ständiger Begleiter, nichtsdestotrotz ist die Lehre vom Verbrechen keine rein juristische Materie. So führt der Autor, Prof. Dr. Dr. Michael Bock, relativ zu Anfang des Buches bereits zutreffend aus: „über den Gegenstand der Kriminologie herrscht keine Einigkeit“ man müsse sich darüber im Klaren sein, dass Verbrechen in der Kriminologie grundsätzlich eine untechnische Bezeichnung für den Bruch bestimmter Normen sei, während an die spezifische strafrechtliche Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen (§ 12 StGB) gerade nicht gedacht sei. Gegenstand der Kriminologie sei eben nicht gerade nur der juristische Verbrechensbegriff ist, sondern auch der Soziologische Verbrechensbegriff sowie der natürliche Verbrechensbegriff gehören zum Gegenstandsbereich der Kriminologie und das macht die Kriminologie zu einer kaum einzugrenzenden interdisziplinären Wissenschaft.

Der Autor konzentriert sich zu Beginn des Buches darauf, dem Leser diese Themen, Gegenstände und Bezugswissenschaften der Kriminologie näher zu bringen. Bereits im Rahmen des Vorwortes zur dritten Auflage, das auszugsweise auch in der vierten Auflage abgedruckt ist, hat Bock hierzu ausgeführt: „Es zeigt sich immer deutlicher, dass mit der „angewandten Kriminologie“ eine Lücke geschlossen wird, die in der Ausbildung aller relevanten Berufsgruppen der Strafrechtspflege klafft. Polizisten, Sozialarbeiter, Pädagogen und Juristen, überwiegend aber auch Psychologen und Psychiater, bekommen in ihrer Ausbildung kein Handwerkszeug für die kriminologische Erfassung eines Menschen vermittelt, obwohl gerade dies eine Aufgabe ist, vor die sie in ihrer täglichen Arbeit mit sozialauffälligen und straffälligen Menschen ständig gestellt sind.“

Ich denke, mit diesem Satz macht der Autor deutlich, dass das Buch nicht unbedingt schwerpunktmäßig darauf abzielt, auswendig erlernbares Wissen zu vermitteln, sondern ein über das „klassische Strafrecht“ hinausgehendes Hintergrundwissen bzw. ein Verständnis für Ursachen und Folgen der Kriminalität zu vermitteln.

Dass es sich hier zumindest teilweise auch um ein Studienbuch handelt wird dadurch deutlich, dass der Autor sehr ausführlich mit Grundlagen und Methoden der Kriminologie auseinandersetzt. Der gesamte zweite Teil beschäftigt sich mit Theorien und Forschungsansätzen, wobei den klassischen Kriminalitätstheorien ganze 35 Seiten gewidmet werden. Dieser Teil des Buches vermittelt ganz eindeutig reines Prüfungswissen, so werden die Epochen im straftheoretischen Denken vom Mittelalter über den Absolutismus den Rechtsstaat und schließlich den Sozialstaat mit den typischen Vertretern und den entsprechenden Kodifikationen behandelt. Es ist in jedem Fall nicht uninteressant, sich mit der kriminologischen Entwicklung seit dem Mittelalter zu beschäftigen, praktische Relevanz hat dieser Abschnitt des Buches allerdings meines Erachtens nach nicht.

Bevor sich der Autor dann im dritten Teil der angewandten Kriminologie zuwendet, werden Theorien und Forschungsansätze zum Entstehen und den Gründen für Delinquenz erläutert. Hier finden sich die klassischen Forschungsansätze, wie die bekannten Befunde der Zwillingsforschung bzw. der Adoptionsstudien, sowie Ausführungen zur Streitfrage, ob für die Straffälligkeit eines Menschen eine „Veranlagung“ ausschlaggebend oder doch der Einfluss der Umwelt als entscheidend einzustufen ist. Die unterschiedlichen Studien und Theorien werden sehr ausführlich sowohl in Textform als auch mit grafischen Übersichten dargestellt und schließen mit einer kritischen Stellungnahme des Autors zu den jeweiligen Theorien ab. Die maßgeblichen Theorien wie beispielsweise die Wechselwirkungstheorie von Thornberry werden gut verständlich erklärt, auch hier finden sich zahlreiche Grafiken, die das teilweise auch hier unumgängliche Auswendiglernen erleichtern.

Unter dem Stichwort „angewandte Kriminologie“ wird es nach dem vorausgegangen sehr theoretischen Teil nun wesentlich praktischer. So befasst sich der Autor zunächst mit den rechtlichen Anforderungen an Kriminalprognosen das heißt, wie unter Berücksichtigung der Individualität des jeweiligen Täters, der Zugrundelegung eines vollständig und richtig ermittelten Sachverhaltes sowie einer sinnvollen Interventionsplanung - dies am Beispiel der Entscheidung über eine Strafrestaussetzung zur Bewährung - eine möglichst hohe Prognosesicherheit über die Wahrscheinlichkeit weiterer strafrechtlicher Auffälligkeiten eines Täters erreicht werden kann, gefolgt von potentiellen Prognoseirrtümern und -fehlern.

§ 8 des dritten Teiles zeigt dann das praktische Vorgehen bei der Durchführung der notwendigen statistischen Erhebungen auf, schildert detailliert, wie die Gespräche mit den jeweiligen Probanden ablaufen und welche Fragen konkret gestellt werden, um die maßgeblichen Informationen, die zur Erstellung einer möglichst sicheren Prognose erforderlich sind zu halten. Dieser Teil des Buches zeichnet sich durch enormen Detailreichtum aus. So finden sich die Ausführungen zu Auffälligkeiten bei der Geburt oder in den frühkindlichen Entwicklungsstadien, sowie zu der Erstellung einer Entwicklungspsychologischen Anamnese. Hier dürfte es dem Leser mit juristischem Hintergrund teilweise schwerfallen, dem Autor zu folgen. Der Schwerpunkt liegt eindeutig im psychologischen, teilweise im medizinischen Bereich.

Ausführungen zu den Besonderheiten einer Exploration von inhaftierten Probanden schließen sich an. Auch hier wird detailliert aufgeschlüsselt welche Besonderheiten sich bei Probanden durch den Aufenthalt in der Haftanstalt ergeben und wie diese im Rahmen der Datenerhebung bzw. der späteren Prognose zu berücksichtigen sind. Entsprechende Abhandlungen finden sich dann noch zu Besonderheiten ausgewählter Tätergruppen beispielswiese Sexualstraftätern bzw. Tätern mit Persönlichkeitsstörungen.

§ 14 des dritten Teils befasst sich mit der Früherkennung krimineller Gefährdung, wobei sich das Buch mit den unterschiedlichen Syndromen krimineller Gefährdung auseinandersetzt. Auch an diesem Bereich bleibt der Autor seinem Stil treu, die einzelnen Syndrome zunächst in Textform und im Anschluss schematisch darzustellen und sich am Ende kritisch mit den jeweiligen Syndromen bzw. den daraus zu ziehenden Rückschlüssen auseinanderzusetzen.

Der vierte Teil schließlich widmet sich den Einwirkungsmöglichkeiten auf den einzelnen Straffälligen, sprich mit personaler tertiärer und positiver Spezialprävention. Der Autor erläutert, nachdem er einführend allgemeine Ausführungen zu den jeweiligen Präventionsmöglichkeiten gibt, konkrete Einzelmaßnahmen, die der Jurist doch aus der Praxis kennt. So wird das soziale Training dargestellt, die Möglichkeit und Erfolgsaussichten eines Antiaggressionstrainings, der Täter-Opfer-Ausgleich, Erlebnispädagogik und Sport sowie die Möglichkeit eines Wohngruppenvollzuges. Es schließt sich die Schilderung unterschiedlicher Projekte aus der Praxis an, exemplarisch wird der Rüsselsheimer Versuch erläutert sowie das Jugendhilfezentrum „Raphaelshaus“ in Dormagen vorgestellt.

Unter dem Titel „Kriminalität und Kriminalitätskontrolle“ erläutert der Autor die gängigen Kriminalstatistiken, erklärt kurz die Dunkelfeld- und die Instanzenforschung und beschäftigt sich mit der Frage der Effektivität strafrechtlicher Sanktion anhand einschlägiger Rückfallstatistiken. Gegen Ende des Buches findet auch die Viktimologie ihren Platz, diese wird allerdings im Vergleich zur Kriminologie eher oberflächlich behandelt. Auf gerade einmal vier Seiten befasst sich das Werk zunächst mit Begriff und Gegenstand der Viktimologie, mit Opferbefragungen also empirischen Forschungen in der Viktimologie, insbesondere der Dunkelfeldforschung sowie Forschungen zu Folgen des Opferwerdens.

Den tatsächlichen Abschluss bildet dann der 6. Teil der sich mit Forschungen zu Täter und Deliktsgruppen, hier erneut mit unterschiedlichen Erscheinungsformen der Kriminalität, wie Gewalt-, Sexual-, und Drogenkriminalität befasst, wobei der Autor zunächst deren Anteil an den unterschiedlichen Delikten prozentual darstellt und schließlich „Erklärungsversuche“ hierfür unternimmt.

Die praktische Relevanz des Buches für den Strafrechtler ist meines Erachtens nach im Ergebnis nicht allzu hoch, lediglich die Teile, in denen sich der Autor mit den unterschiedlichen Formen der Kriminalität bzw. den praktischen Möglichkeiten einer Einwirkung auf Mehrfachtäter auseinandersetzt, sprich das Vorgehen beim Täter-Opfer-Ausgleich, die Möglichkeiten, auf jugendliche Gewalttäter durch Antiaggressions-Trainings oder Ähnliches einzuwirken, lassen sich in den Arbeitsalltag integrieren. Die Ausführungen zur historischen Entwickelung und den unterschiedlichen Kriminalitätstheorien richten sich offenkundig eine Studierende, die mit entsprechenden Fragen im Rahmen eines etwaigen Schwerpunktstudiums zu rechnen haben, hier handelt es sich um ein klassisches Lehrbuch.

Am Ende eines jeden Kapitels finden sich Lern- und Kontrollfragen sowie Verständnis- und Transferfragen, allerdings sieht der Autor komplett von Musterantworten ab. Dies wird von ihm selbst in der Einführung auf Seite 3 damit begründet, dass „die meisten der Fragen (...) entweder so einfach und klar zu beantworten sind, dass der Text des Buches als Antwortvorgabe ausreicht, oder sie gerade so „offen“ und so anspruchsvoll sind, dass sie nicht einfach abschließend geklärt werden können“. Diese Ausführungen treffen sowohl den größten Vorteil als auch die größte Schwierigkeit dieses Buches auf den Punkt. Die Lehre vom Verbrechen ist eben beispielsweise in Abgrenzung zum klassischen Strafrecht kein Themengebiet, das ein abschließendes Lernen zulässt, ein richtig oder falsch gibt es zum größten Teil nicht. Die Thematik lässt Freiraum für Diskussionen und eigene Meinungsbildung.

Die Ausführlichkeit seiner Ausführungen sowie der offensichtliche Anspruch, neben Juristen auch Mediziner, Psychologen oder Soziologen mit dem Buch zu erreichen führt dazu, dass es teilweise schwer fällt, einen fundierten Überblick zu erlangen. So ist es definitiv von Nöten, bestimmte Passagen mehrfach zu bearbeiten, um sie tatsächlich nachvollziehen zu können. Hat man sich allerdings entsprechend „durchgearbeitet“ besteht sicherlich keine Notwendigkeit ergänzender Literatur.

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