Quantcast
Channel: Die Rezensenten
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717

Rezension: Handbuch des Strafrechts, Band 7

$
0
0

Hilgendorf / Kudlich / Valerius, Handbuch des Strafrechts, Band 7: Grundlagen des Strafverfahrensrechts, 1. Auflage, C.F. Müller

Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl

Das „Handbuch des Strafrechts“ bietet eine Gesamtdarstellung des deutschen Strafrechts und ist auf insgesamt neun Bände angelegt. Die ersten sechs Bände thematisieren den Allgemeinen Teil und den Besonderen Teil des materiellen Strafrechts und ausgesuchter Gebiete des Nebenstrafrechts. Die letzten drei Bände widmen sich dem Strafverfahrensrecht. Die einzelnen Bücher verfügen dabei nicht über die Kommentierungen einzelner Vorschriften, sondern erschließen die Materie in Form themenspezifischer Abhandlungen. Bei einem so opulenten Gesamtwerk ist klar, dass es die Dogmatik in den Mittelpunkt stellt und kein typisches Praxishandbuch erstellt werden sollte. Die Erläuterung der Grundlagen des Rechts und deren Fortentwicklung sollen die Leserinnen und Leser begleiten und anleiten. Diese Darstellungsform gibt den Herausgebern und Autoren auch die Freiheit, sich tatsächlich an geeigneter Stelle kritisch zu äußern oder zu positionieren, ohne dem Diktum der obergerichtlichen Rechtsprechung unterworfen zu sein. Hinzu kommt, sofern möglich, ein Blick auf Interdisziplinarität und europäische sowie internationale Tendenzen. Der vorliegende Band 7 hat die Grundlagen des Strafverfahrensrechts zum Inhalt, während in Band 8 das strafprozessuale Regelverfahren in erster Instanz und in Band 9 u.a. Rechtsmittel, Strafvollstreckung oder besondere Verfahrensarten thematisiert werden.

Fast 1100 Seiten inklusive der Verzeichnisse harren der Lektüre. Das Autorenteam vereint viele bekannte Namen der deutschen Strafrechtsliteratur, wenngleich, jedenfalls im vorliegenden Band, nur ein Rechtsanwalt, zwei ehemalige BGH-Richter und ansonsten universitär tätige Autoren (ja, in der Tat: keine Autorin…) zu finden sind. Letztere immerhin teilweise mit forensischem Hintergrund oder entsprechender Nebentätigkeit als Strafverteidiger oder Richter am OLG im Nebenamt.

Die Aufmachung ist wenig überraschend sehr textlastig, gut untergliedert, aber dennoch dicht gedrängt. Leider ist die Verwendung von Fettdruck nicht einheitlich gehalten, sodass einzelne Kapitel schwerer zu lesen sind als andere. Der Fußnotenapparat ist opulent und nicht auf gedruckte Fundstellen beschränkt. Visuelle Elemente sind verständlicherweise nicht verwendet worden.

Das Werk ist in 27 Kapitel (§) unterteilt worden, die wiederum in sieben Abschnitten zusammengefasst sind. Die Darstellung beginnt mit Einordnung und Grundlagen des Verfahrensrechts, erläutert anschließend die Entstehung des geltenden Strafprozessrechts, seine Rechtsquellen und den Geltungsbereich. Sodann folgen Grundstrukturen der StPO sowie Prozessmaximen, bevor die Verfahrensbeteiligten näher in den Fokus genommen werden. Den Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernissen ist der nächste Abschnitt zugewiesen, bevor abschließend Prozesshandlungen, Prozessstrukturen und prozessuale Fristen zur Sprache kommen.

Eingangs möchte ich den Blick auf das erste Kapitel lenken, in welchem sich Kudlich mit der Stellung und Aufgabe des Strafprozessrechts auseinandersetzt. Insbesondere die Frage nach den Zielen des Strafprozesses (Rn. 7 ff. / S. 8 ff.) muss sich in den heutigen medienaffinen Zeiten immer wieder neu gestellt werden, in denen es nicht nur 80 Millionen Bundestrainer oder wahlweise Virologen gibt, sondern, bei entsprechend hochgejazzter Berichterstattung, auch 80 Millionen gestandene Strafrichter, die im Zweifel wenigstens die Todesstrafe fordern (vgl. dazu auch § 19 zum „Opfer“, siehe unten). Dass man sich als Organ der Rechtspflege vor diesem Druck und den falschen Erwartungshaltungen schützen muss, der Verteidiger und der Nebenklagevertreter zudem noch ihre Mandanten im Blick behalten müssen, ist eine Sache. Die dogmatische Auseinandersetzung mit den Zielen der Wahrheitsermittlung, der Frage nach dem Gerechtigkeitsbegriff oder der Schaffung von Rechtsfrieden kommt jedoch auf der anderen Seite hinzu und sich mit diesen Zielen und Maximen zu befassen, ist eine Grundpflicht der professionellen Verfahrensbeteiligten, allein schon um den ethischen Berufsgrundsätzen gerecht zu werden, die die Rechtsordnung an Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte stellt. Dass die verfolgten Ziele dabei – auch dogmatisch – im Konflikt zueinander stehen können, arbeitet Kudlichprägnant heraus.

Gespannt war ich auf das Kapitel zur Strafverteidigung (§ 17). Die verfassungsrechtlichen und rechtshistorischen Grundlagen sowie die Stellung im heutigen Strafverfahren nehmen zunächst großen Raum ein. Interessant wird es v.a. ab Rn. 45, wenn nämlich die Vertragstheorie als Basis der Zusammenarbeit zwischen Beschuldigtem und Verteidiger auf den Prüfstand gestellt wird und die Frage der Weisungsgebundenheit des Verteidigers angegangen wird. Dabei wird das Primat des Mandantenwunsches klar herausgearbeitet, denn der Verteidiger ist nicht der bevormundende Richter des Betroffenen. Dieser Gedanke (keine Vormundschaft i.S.d. BGB) wird dann auch zutreffend in Rn. 48 bei der Anwendung der Theorie auf die Pflichtverteidigerstellung ausgearbeitet, sodass auch für den Fall der Beiordnung der Wille des Beschuldigten in der Mandatsführung Vorrangstellung genießt. Im Folgenden werden sogar Details wie der Unterschied zwischen Verteidigungs- und Vertretungsvollmacht (Rn. 74 ff.) oder die zivilrechtliche Konstruktion der Benennung eines Pflichtverteidigers durch das Gericht (Rn. 96) aufgegriffen, sodass man gerade keine kommentarähnliche Lektüre des Verteidigerwesens zu bewältigen hat, sondern mit vielen Nebenaspekten konfrontiert wird und das eben auch einmal in gebotener Breite. Schließlich ist auf Rn. 128 hinzuweisen, wo zu Recht betont wird, dass der Verteidiger nicht Mitgarant eines justizförmigen Verfahrens ist, sondern eben (nur) Vertragspartner des Beschuldigten. Dass vereinzelt mit der Praxis nicht vereinbare Statements abgegeben werden (z.B. Ablehnung der Widerspruchslösung, Rn. 129) ist angesichts der Konzeption des Handbuchs hinzunehmen.

Ebenfalls mit großem Interesse habe ich den Abschnitt zum Opfer gelesen (§ 19), der von Barton verantwortet wird, der noch in erheblichem Umfang forensisch tätig ist, sodass hier auch seine prozessualen Erfahrungen einfließen konnten. Das Opferrecht wurde erst in den letzten Jahren erheblich fortentwickelt und die Neuerungen gerade in der StPO führen zu durchaus komplexen Situationen (Einsichtsreche, Informationsrechte, Fragen der Beiordnung, Mitwirkung am Verfahren, Ersatzansprüche / Adhäsion, psychosoziale Prozessbegleitung etc.). Es ist deshalb richtig und wichtig, wie hier zunächst eine Begriffsannäherung versucht und der Opferbegriff als Fremdkörper im klassischen Strafverfahren herausgearbeitet wird (Affektuierung statt Rationalität, Moral und Empathie vs. Recht und Unrecht; Rn. 24-26), das sich aber des Einflusses anderer Wissenschaften nur schwer entziehen kann. Ausgehend vom Begriff des Verletzten wird deshalb anschließend die Kompromisslösung der StPO aufgezeigt, die dann aber durch verschiedene Gesetzesänderungen weiterentwickelt wurde. Die von Bartongetroffenen Einschätzungen (Rn. 65 ff. und Rn. 155 ff.) sind lesenswert, wenngleich man seine Beobachtungen und Kritik natürlich bisweilen ein wenig relativieren muss. Denn manche Passagen geraten ein wenig zu wortgewaltig und durchaus tendenziös, sodass der dogmatische Impetus des Handbuchs ein wenig ins Straucheln kommt. Bemerkenswert sind jedoch gerade die Abschnitte, in denen er das Leitbild des Opfers, das der StPO innewohnt - das des selbstbewussten Bürgers, der in Privat- oder Nebenklage sein Recht gegen den Beschuldigten durchzusetzen sucht - mit dem „idealen“ Opfer in Kontrast zueinander stellt und so gerade die Besinnung auf die Grundlagen des Verfahrensrechts erreicht, die das Handbuch propagiert.

Natürlich stehen die ausgesuchten Kapitel nur pars pro toto, aber dennoch für ein gelungenes, lesenswertes und profundes Handbuch. Die in den ausgewählten Abschnitten erkennbare Grundtendenz ist klar und erfreulich: „Dogmatik“ und „Theorie“ klingen erst einmal dröge, aber dieses Attribut schüttelt das Handbuch locker von sich ab. Die Lektüre ist phasensweise sogar spannend, stets sehr lehrreich und für einen praktisch tätigen Strafrechtler ein echter Gewinn.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717