Fasselt / Schellhorn, Handbuch Sozialrechtsberatung, 6. Auflage, Nomos 2021
Von RAin, Fachanwältin für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf
Das Handbuch ist in drei Teile unterteilt: Teil eins beinhaltetet die einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches. Die Einleitung entspricht im Wesentlichen SGB I: Was ist Sozialrecht, was sind die Grundlagen, in welche Bereiche ist es unterteilt (Sozialversicherung, Arbeitsförderung, soziale Entschädigung, soziale Förderung, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Sozialhilfe, Rehabilitation und Teilhabe, Rechtswege und aus aktuellem Anlass ein Anhang: Corona – Pandemie und Sozialrecht). Schon in § 1 weicht das Buch vom Aufbau des SGB ab: Hier geht es um Ausbildungsförderung. Dieser "Einschub" erklärt sich zunächst nicht, ist vielleicht zu sehen mit dem nachfolgenden § 3 Arbeitsförderung. In den nachfolgenden Paragraphen folgt dann die gesetzliche Unfallversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflegeversicherung, die Rentenversicherung, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden, Kinder- und Jugendhilfe, Adoptionsvermittlung, Wohngeld, Sozialhilfe, Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, Europäisches Sozialrecht. Das sind alles Bereiche, die im SGB enthalten sind bzw. besondere soziale Gesetze, die außerhalb des SGB stehen, aber durch § 68 SGB I in den Regelungsbereich des SGB miteinbezogen sind (z.B. Wohngeld, Ausbildungsförderung).
Teil 2 trägt den Titel "Lebenslagen und Problemlagen", z.B. Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Armut, Kinder und Jugendliche, Partnerschaften, Alleinerziehende und Schwangere, Alter, Drogen/Sucht, Behinderung, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, besondere soziale Schwierigkeiten, MigrantInnen. Teil 3 befasst sich dann mit der Beratung im Sozialrecht, insbesondere mit der Beratung und der Haftung, dem Datenschutz und der Erlaubnis zur Sozialrechtsberatung.
Im Grunde müsste man das Buch von hinten nach vorne lesen: eine Beratungsstelle informiert sich zunächst einmal über die eigenen Rechte und Pflichten, um sich selbst auf sicherem rechtlichen Boden zu bewegen (Wie weit darf ein gemeinnütziger Verein überhaupt Ratsuchende beraten (Stichwort Erlaubnis zur Sozialrechtsberatung nach dem Rechtsdienstleitungsgesetz (RDG)), welche Pflichten zum Schutz persönlicher Geheimnisse hat der Berater gegenüber dem Ratsuchenden aber auch welche Offenbarungspflichten hat er, wie und wofür haftet der Berater entweder selbst oder als Behörde bzw. privater Träger?). Nachdem in Teil drei umfassend die Rechtsstellung der Beratungsperson geklärt ist, folgen dann die Situationen, in denen eine Beratung erforderlich ist, unterteilt eben nach Problem- und Lebenslagen. Für jede Beratungstätigkeit ist es generell sinnvoller - und praxisbezogener -, vom Menschen auszugehen, der Rat sucht. Ein großer Teil der Beratenden hat kein Jurastudium absolviert, sondern Soziale Arbeit studiert oder war auf einer Verwaltungsfachhochschule. Was nutzt die Kenntnis aller 328 Paragraphen des SGB V (KV), wenn der minderjährige Ratsuchende seelisch behindert ist und die Krankenkasse nicht einspringen will, weil eine seelische Behinderung nicht mittels medizinischer Behandlung behandelbar ist? Oder wenn er/sie gar nicht krankenversichert ist? Dann hilft es, das Buch zum "Problemkreis" Kinder/Jugendliche zur Hand zu haben, und zu erfahren, dass ja vielleicht auch das Jugendamt als Kostenträger für therapeutische Hilfen in Frage kommt. Generell erscheint dieser Aufbau für ein Beratungshandbuch zielführender, denn in dem Abschnitt über seelische Behinderung wird dann auch gleich dargestellt, dass evtl. , falls es sich nicht um eine seelische Behinderung handelt, auch der Träger der Eingliederungshilfe Kostenträger sein könnte. Eine solche "Gesamtbetrachtung" schützt und hilft bei der (leider immer noch sehr häufig vorkommenden) Aussage einer Behörde: "Wir sind nicht zuständig. Sie können hier keinen Antrag stellen". Der Ratsuchende sitzt ja gerade vor dem Berater, weil die Behörde nicht weiterhilft. Auch Behörden sind (schon aus dem SGB I oder dem SGB IX) zur Beratung verpflichtet. Leider liegen da häufig nur Kenntnisse aus dem eigenen Leistungsbereich vor. Erst wenn das Anliegen des Ratsuchenden bzw. Antragstellers erfasst ist, kommt Teil eins ins Spiel: Die einzelnen Sozialgesetze, ihr Inhalt, ihre Leistungen, ihre Voraussetzungen.
"Nötig" wurde dieses Buch in erster Linie durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG), das stufenweise 2017, 2018 und 2020 in Kraft trat. Da alle SGB eng miteinander verzahnt sind, hat sich dieses Gesetz auf fast alle Sozialleistungsbereiche ausgewirkt. Am nachhaltigsten seit Einstufung der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das SGB IX (das Buch der Rehabilitation und Teilhabe). Es ist gut, dass die 6. Auflage erst jetzt erschienen ist, da schon die ersten Erfahrungen durch diese neu geschaffene Umsetzung vorliegen. Es zeigt sich, dass diese "Reform" mindestens so grundlegend (wenn auch auf den ersten Blick nicht so spektakulär) wie das SGB II ist. In dieser Situation ist solide Beratung gefragt. Sozialrecht ist in erster Linie ein Tummelplatz für Sozialarbeiter (auch wenn Rechtsanwälte das gar nicht gerne hören). Die Herausgeber wie auch die meisten Bearbeiter stammen aus der Lehre und bilden Studenten der sozialen Arbeit aus. Abseits der Kommentare zu den einzelnen SGB haben die meisten sozialrechtlichen Handbücher Nichtjuristen als Leserschaft. Da auch die Ratsuchenden Nichtjuristen sind, verstehen Praktiker deren Anliegen zunächst einmal besser.
Schade ist, dass dann aber ein Kapitel über das Sozialverwaltungsverfahrensrecht, SGB X, fehlt. Denn was nutzt die umfassendste Beratung über Möglichkeiten, wenn der Berater nicht weiß, wie er diese Theorie auch in die Praxis umsetzen kann und welche (immer wieder vorkommenden) Fallstricke es gibt (Bsp: Unterschied zwischen Bescheid und Anhörung)? Damit wäre das Buch richtig "rund" geworden. Denn oftmals haben Berater die Sorge, sie machten etwas falsch, würden etwas vergessen. In Anbetracht der Fülle an Informationen ein Schönheitsfehler. Informationen über den Verfahrensgang gibt es überall.
Dem Buch beigefügt ist ein Poster "Sozialleistungen im Überblick". Aus aktuellem Anlass ist der Einleitung ein Abschnitt eingefügt "Corona- Pandemie und Sozialrecht". Darin sind die zahlreichen Gesetze genannt, die die Auswirkungen der Pandemie im Sozialleistungsbereich abfedern sollen. Sehr hilfreich ist die Liste der Internetadressen, auf denen Interessierte / Betroffene eines Sozialbereichs auf sie zugeschnittene Fragen finden können, z.B. auf der Website der Bundesvereinigung der Lebenshilfe (www.lebenshilfe.de) mit "Corona FAQ für Dienste und Einrichtungen" oder: "Corona – Gesetzgebung: Ein Überblick über den Bereich der Behindertenhilfe".
Das Handbuch ist ein Must – have und sollte in keiner Beratungsstelle fehlen!