Quantcast
Channel: Die Rezensenten
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717

Rezension: SGB IX

$
0
0
Neumann / Pahlen u.a., Sozialgesetzbuch IX, 14. Auflage, C.H. Beck 2020

Von RAin, Fachanwältin für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf



Durch das Bundesteilhabegesetz wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII (Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialhilfe) in das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) überführt. Dementsprechend rückten die Regeln, die so "exklusiv" für bedürftige Behinderte galten, in den Fokus einer gänzlich anderen Blickrichtung auf das Sozialrecht, nämlich Arbeitsrecht. Bisher waren die Bereiche Schwerbehindertenrecht und Eingliederungshilferecht strikt getrennt. Beispielsweise gab es aus anwaltlicher Sicht so gut wie keine Berührungspunkte. Anwälte, die Werkstattmitarbeiter vertraten, interessierten sich nur am Rande (wenn überhaupt) für Ausgleichsabgaben, Anwälte aus dem Arbeitsrecht konnten Berechnungsregeln über Vermögenseinsatz getrost ignorieren.

Seit 01.01.2020 sind die Paragraphen "Tür an Tür" in einem Sozialgesetzbuch eingeordnet. Der vorliegende Kommentar kommentiert als einer der ersten das neue SGB IX. Dementsprechend anders ist jetzt der Inhalt einer SGB IX Kommentierung, die bezeichnenderweise in der Reihe "Beck'sche Kommentare zum Arbeitsrecht" erscheint. Das SGB IX besteht jetzt aus drei statt wie jahrelang zwei Teilen. Diese stehen aber unabhängig nebeneinander. Laut Gesetzgeber liegt das daran, dass in der Eingliederungshilfe "nur" noch Fachleistungsstunden gesetzlich geregelt werden, lediglich Hilfen zur Existenzsicherung für den betroffenen Personenkreis sind im SGB XII verblieben. Vorteile erschließen sich daraus nicht. Statt ein Gesetz jetzt zwei, neue Papierflut, inhaltlich ändert sich wenig (jedenfalls nicht zum Besseren, wie die teils herbe Kritik der Verbände der Betroffenen zeigt).

Der Kommentar folgt dem herkömmlichen Aufbau aller Kommentare: Inhalts-, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis, Einleitung, Kommentierung des SGB IX (an dieser Stelle eine Neuheit, dazu sogleich mehr), im Anschluss daran Kommentierung diverser, exotisch anmutender Gesetze und Verordnungen, an deren Abkürzungen sich die Lust des Juristen zu möglichst unverständlichen Abkürzungen zeigt: "SchwbBefG = Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personennahverkehr", "BGG = Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen", AGG = Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz", "SchwbVWO = Wahlordnung Schwerbehindertenvertretungen", "SchwbAV = Schwerbehinderten – Ausgleichsabgabeverordnung", "WVO = Werkstättenverordnung", "WMVO = Werkstätten – Mitwirkungsverordnung", "SchwbAwV = Schwerbehindertenausweisverordnung". Bei diesem Mix aus Groß- und Kleinschreibung sieht jede Autokorrekturfunktion buchstäblich rot. Den Abschluss bildet wie immer ein Sachverzeichnis.

Eine Neuheit in dieser Art von Kommentierung ist in der Einleitung Teil A zu finden. Hier ist – anders als sonst – nicht nur die geschichtliche Entwicklung des Behindertenrechts bis heute enthalten, sondern auch ein Ausblick auf geplante Veränderungen im Jahr 2023. 2020 ist mit den Entwicklungen nämlich noch nicht Schluss. Als ob es nicht genügt hätte, dass das BTHG in drei Schritten verteilt auf vier Jahre in Kraft trat. Ob das aber wegen der dank Corona zu erwartenden leeren Kassen der öffentlichen Hand so in die Tat umgesetzt wird, soll dahingestellt bleiben. Das lässt schon ein Blick auf die (erstmals in dieser Literatur) genannten Kosten ahnen: Durch die Neuordnung des Behindertenrechts trägt allein in 2020 der Bund 750 Mio. €, Länder und Gemeinden 116,5 Mio. €, Wirtschaft 67,74 Mio. €, Mehrbelastung der Verwaltung 118,72 Mio. €.

Die Kommentierung des eigentlichen SGB IX folgt den bekannten Regeln: Gesetzestext, Anmerkungen. Interessant ist, dass z. B. die Fundstellen der Rechtsprechung chronologisch zitiert werden. Da sich Gerichte in ihren Urteile häufig auf "Vorgänger" beziehen (z.B. "ständige Rspr., vergleiche BSG xyz vom 00.00.2003"), kann man hier Zeit sparen, indem man immer das zeitlich letzte Urteil liest (ich höre schon empörte Richter: "Im Urteil des hier erkennenden Gerichtes steht aber etwas Eigenständiges! Unabhängigkeit der Justiz!").

Aufgrund der Fülle gesammelter Gesetze / Verordnungen zum Behindertenrecht hätte der Titel auch "Kommentar zum Behindertenrecht" lauten können. Einige der eben aufgezählten Gesetze / VOen sind aber nur in Auszügen abgedruckt; wahrscheinlich wäre dieser Titel dann missverständlich gewesen.



Viewing all articles
Browse latest Browse all 2717