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Rezension: Handbuch des Strafrechts Band 4: Strafrecht Besonderer Teil I

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Hilgendorf / Kudlich / Valerius, Handbuch des Strafrechts, Band 4, Strafrecht Besonderer Teil, 1. Auflage, C.F. Müller 2019

Von RA Dr. Sebastian Braun, Leipzig.



Bereits das Vorwort dieses über 1.200 Seiten starken Teilbandes des auf neun Bände angelegten Handbuchs des Strafrechts enthält Passagen, die den Leser in den Bann ziehen:

„Das Strafrecht wird heute oft als fast beliebiges Mittel der Rechtspolitik angesehen. Das Verständnis für Grundsätze wie das Gesetzlichkeits- und das ultima-ratio-Prinzip scheint selbst bei Rechtspolitikern zu schwinden. Gegenüber solchen Auflösungserscheinungen gilt es, die Humanorientierung des Strafrechts energisch zu verteidigen und die sich daraus ergebenden Grenzziehungen wieder stärker ins Bewusstsein zu heben.“.

Diese Passage verdeutlicht, mit welchem Ziel die Herausgeber des Handbuchs des Strafrechts angetreten sind. Es geht darum, die Fortentwicklung des Strafrechts auf dogmatisch sichere Füße zu stellen und zugleich zu betrachten, ob gesellschaftlicher Wandel und kriminalpolitische Vorstellungen mit der bestehenden Dogmatik des Strafrechts einher gehen können. Dahinter steht auch das Ziel, einer Ausweitung des Strafrechts an den Stellen vorzubeugen, an denen anderenfalls eine deutliche Überziehung der strafrechtlichen Grundlagen und damit eine Verletzung des ultima-ratio-Grundsatzes gegeben wären. Gleichzeitig soll aber auch eine entwicklungsoffene Betrachtung erfolgen, um damit auch die Dogmatik hinsichtlich exotischerer Randbereiche wie dem Technikstrafrecht, dem Kapitalmarktstrafrecht oder auch dem Medizin- und Biostrafrecht auszugestalten.

Vor dem Hintergrund ist eine Gesamtdarstellung des deutschen Strafrechts inklusive des Strafverfahrensrechts geplant. Der vorliegende vierte Band eröffnet den zweiten Sektor, nämlich die Darstellung des besonderen Teils des Strafrechts. Bd. 4 ist in sieben Abschnitte und insgesamt 27 Paragrafen unterteilt und behandelt Delikte, die dem Schutz von Leib und Leben, dem Schutz der persönlichen Freiheit, dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, dem Schutz der Ehre, dem Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimbereichs, dem Schutz des Staates, dem Schutz von Staatsgewalt und öffentlicher Ordnung dienen.

Vertiefter habe ich mir insbesondere die „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ angeschaut, die von Singelnstein bearbeitet werden.

Nach einer Einführung hinsichtlich verfassungsrechtlicher Vorgaben, begrifflicher Fragestellungen sowie einer Exkursion zur praktischen Bedeutung der Delikte und einer kriminologischen Einordnung stellt der Autor in der Folge die relevanten Regelungen detailliert vor, ohne jedoch den Leser hinsichtlich der Darstellungstiefe mit überflüssigen Inhalten zu überfrachten. Besonders hervorzuheben ist die Passage, in der Singelnstein eine Abgrenzung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und einverständlichen Fremdgefährdung durchführt. Hierbei stellt er zunächst die Rechtsprechung des BGH vor, wonach eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung grundsätzlich nicht den Tatbestand eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts erfülle, wenn sich das vom Opfer bewusst eingegangene Risiko realisiert. Von einer Fremdgefährdung könne nur dann die Rede sein, wenn sich eine Person nicht selbst gefährdet, sondern sich von einer anderen Person gefährden lasse (§ 4 Rn. 75).

Hierbei stellt Singelnsteinklar die Linie der Rechtsprechung vor und widmet sich auch dem weiterführenden Problem, wann von einer Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung ausgegangen werden darf und wann eine solche ausgeschlossen ist. Die Stärke der Darstellung basiert darauf, dass er pointiert die wesentlich vertretenen Linien nachzeichnet und mit praxisbezogenen Beispielen untermauert und zugleich dem Leser/Anwender sämtliche Punkte vor Augen führt, die man in einer eigenen Prüfung und Bearbeitung entsprechender Fallgestaltungen zu beachten hat.

Aus wissenschaftlicher Perspektive ist besonders die Passage zur hypothetischen Einwilligung im Rahmen des ärztlichen Heileingriffs zu nennen (S. 216 ff.). Die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung ist bekanntermaßen umstritten. Dies betrifft nicht nur ihre inhaltliche Ausdehnung, sondern auch das Anerkennen der Rechtsfigur an sich. Wertungsfrei zeichnet Singelnstein zunächst die gegen die hypothetische Einwilligung bestehenden Argumente nach. Im weiteren Abschnitt dieser Passage werden der Charakter des Handbuches und auch die besondere Zielsetzung der Herausgeber erkennbar. Der Autor widmet sich den Strömungen in der Literatur, die eine alternative Einordnung der hypothetischen Einwilligung anstelle der Konstruktion als Rechtfertigungsgrund fordern. Hier beleuchtet er intensiver das Zurechnungsmodell von Kuhlen. Am Ende stellt er fest, dass dieses und andere von der Literatur entwickelte Konstruktionen bisher von der Rechtsprechung nicht aufgegriffen worden sind. Unabhängig davon, ob dies in Zukunft erfolgen wird, zeigt die vom Autor gewählte Darstellung, dass es sich immer lohnt, von Zeit zu Zeit bereits bestehende Argumentationsmuster zu prüfen, auch wenn diese nicht immer geändert oder verworfen werden müssen.

Streift man das Handbuch an weiteren Stellen, stößt man stets auf eine fundierte Darstellung der Delikte. Besonders lohnenswert sind insbesondere die Passagen, in denen die Autoren bestehende, aber teilweise noch ungelöste Probleme besprechen oder sich mit durchgeführten Novellierungen beschäftigen. Beispielsweise sei hierfür die Darstellung von Popp in § 15 zur Verletzung des persönlichen Lebens und Geheimbereichs genannt. Hier widmet er sich unter anderem dem Problem, dass eine zur Verschwiegenheit verpflichtete Person verstorben ist, und den daraus – mitunter sehr fragwürdigen – resultierenden Folgen für die Strafbarkeit (§ 15 Rn. 26).

Als Fazit bleibt festzuhalten: Das Handbuch des Strafrechts ist ein umfassendes Kompendium aus dogmatischen Grundsätzen der Rechtsprechung und Literatur. Es hält sich nicht mit Kritik zurück, sofern diese angebracht ist, und bietet dem Leser an, seinen Blick zu schärfen und über den Tellerrand eines bereits bestehenden Problems hinaus zu blicken. Eine solche Kombination ist sehr zu begrüßen. Das Handbuch des Strafrechts wird sich daher positiv in den bestehenden Literaturkanon einpflegen und künftig in jeder gut sortierten strafrechtlichen Bibliothek seinen Platz finden. Der vorliegende Band 4 kann nur empfohlen werden.



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