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Rezension: Betriebsvereinbarungen in der Praxis

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Pulte / Bigos, Betriebsvereinbarungen in der Praxis, 5. Auflage, C.H. Beck 2019

Von Rechtsanwalt Marc Becker, Leipzig



Betriebsvereinbarungen unterliegen – wie jedes Vertragswerk – stetem Wandel durch eine geänderte Rechtslage, höchstrichterliche Rechtsprechung oder Änderung der betrieblichen Umstände. Aufgabe der Betriebsparteien ebenso wie der Beratungspraxis auf Seiten der Arbeitgeber oder der Betriebsräte ist es, diese Entwicklungen stets möglich aktuell abzubilden. Dies betrifft nicht allein die Aktualisierung bestehender Betriebsvereinbarungen, sondern insbesondere auch die Regelung völlig neuer Themenbereiche.

Betriebsvereinbarungen sind stets Ausdruck der betrieblichen Wirklichkeit und erfordern nicht selten Fantasie und Kreativität bei der „Übersetzung“ tatsächlicher Umstände in rechtliche Normen. Dabei ist stets darauf zu achten, dass die so entstanden Normen auch für die Betriebsparteien handhabbar bleiben.

Die Autoren Prof. Dr. Peter Pulte und Bianca Bigos stellen – nunmehr in 5. Auflage – der Praxis eine umfangreiche Sammlung von Muster-Betriebsvereinbarungen zur Verfügung. Insgesamt umfasst die Sammlung 260 Betriebsvereinbarungen. Unterteilt ist das Werk in 15 Kapitel. Die Kapitelbenennung orientiert sich zum einen am korrespondierenden Mitbestimmungsrecht aus § 87 BetrVG, was den Erstzugriff enorm erleichtert, und zum anderen an breit gefächerten Themenbereichen („Personelle Mitbestimmung“). Jedem Kapitel sind Vorbemerkungen vorangestellt, in denen zunächst erläutert wird, aufgrund welcher Norm ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates besteht. In diesen Vorbemerkungen wird zudem grob der Umfang des jeweiligen Mitbestimmungsrechts umrissen und bereits auf einzelne Betriebsvereinbarungen verwiesen. Weiterhin ist den meisten Betriebsvereinbarungen eine kurze Erläuterung vorangestellt, in denen sich spezifische Informationen zu den Mustern finden.

Den Vorbemerkungen und den einleitenden Erläuterungen zu den Betriebsvereinbarungen ist gemein, dass die Autoren sehr sparsam mit Fundstellen arbeiten. Soweit ersichtlich, wird im Wesentlichen auf „Küttner Personalbuch“, „Schaub Arbeitsrechts-Handbuch“ und vereinzelt auf Rechtsprechung des BAG verwiesen. Dies schmälert allerdings nicht den Wert des Werkes, da es vordergründig als Formularbuch konzipiert ist.

Für mich hat sich bei der Lektüre einzelner Betriebsvereinbarungen im Buch die Frage nach der Herkunft der Muster gestellt. Im Vorwort weisen die Autoren selbst darauf hin, dass es sich bei den Mustern ursprünglich um Ergebnisse betrieblicher Kompromisse handelt und deswegen juristische Logik und Vertragsgestaltung nicht (immer) im Vordergrund standen. Aufgrund dessen habe man diese überarbeitet und Textfassungen gewählt, die als Formulierungsvorlage geeignet sind. Gerade diese Balance aus „Entwürfen aus der Praxis“ und redigierter Formularfassung hinterlässt bei mir ein zwiespältiges Gefühl. Denn den einzelnen Vorlagen ist nicht anzusehen, ob Sie inhaltlich (und juristisch) nachbearbeitet wurden oder ob es sich um übernommene Betriebsvereinbarungen aus der Praxis handelt.

Exemplarisch habe ich mir die „Gesamtbetriebsvereinbarung zur freien Telearbeit“ (S. 266 f.) angesehen. Diese soll für alle unbefristet Beschäftigten einer Firma gelten, die räumlich in eine außerbetriebliche Arbeitsstätte wechseln. Weiterhin wird geregelt, dass die Mitarbeiter mit dem Wechsel in die Telearbeit zu freien Mitarbeitern werden, weil sie nicht mehr den zeitlichen Weisungen des Arbeitgebers unterliegen. Andererseits wird in derselben Betriebsvereinbarung geregelt, dass Unternehmensvertreter ein Zutrittsrecht zur außerbetrieblichen Arbeitsstätte erhalten. Die Betriebsparteien vereinbaren zudem, dass Telemitarbeiter mit Übernahme der Telearbeit aus der Zuständigkeit des Betriebsrates ausscheiden.

Insgesamt bestehen meinerseits schon Bedenken, ob durch Gesamtbetriebsvereinbarung der vertragliche Status der Arbeitnehmer bei einem Wechsel in Telearbeit (verbindlich) verändert werden kann. Selbst wenn man dies bejaht, ist es wiederum widersprüchlich, dass in selber BV vereinbart wird, dass Unternehmensvertreter ein Zutrittsrecht zum außerbetrieblichen Arbeitsplatz (des dann freien Mitarbeiters) erhalten. Auch scheint es mir fernliegend, dass der (Gesamt-)betriebsrat konstitutiv die eigene Zuständigkeit für Telemitarbeiter ausschließen kann. Die Bestimmung der Zuständigkeit erfolgt allein auf Grundlage des BetrVG.

Diese Gesamtbetriebsvereinbarung ist aus meiner Sicht ein Beispiel dafür, dass offenbar eine Vereinbarung übernommen wurde, die vielleicht in der betrieblichen Praxis sogar praktikabel und gewünscht ist. Andererseits erscheint es mir – aufgrund der geschilderten Bedenken – nicht sinnvoll, diese als allgemeinen Formulierungsvorschlag zu präsentieren.

Insgesamt bin ich deshalb – wie bereits erwähnt – zwiegespalten. Das Werk bietet ohne jeden Zweifel einen großen Fundus an interessanten und praktikablen Formulierungsvorschlägen. Auf der anderen Seite sind aber auch Muster enthalten, die aus meiner Sicht zumindest nicht immer vollends juristisch überzeugen. Für die Arbeit mit einem Formularbuch benötige ich allerdings das Vertrauen, mich weitgehend auf die Muster verlassen zu können. Erwecken einzelne Formulare bei mir Zweifel, schlägt dies zwangsläufig auch auf die inhaltlich völlig zutreffenden Formulare durch. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn sich das Werk gerade direkt an Betriebsräte richtet, die in der Regel nicht über eine juristische Ausbildung zur eigenen Prüfung der Vorlagen verfügen.

Das Werk liefert mit der umfassenden Sammlung von Betriebsvereinbarungen einen wichtigen Beitrag für die betriebliche Praxis. Wünschenswert wäre, dass in zukünftigen Auflagen weiter eine kritische Auseinandersetzung mit Vorlagen, die „direkt“ aus der Praxis kommen, stattfindet. Aufgrund des unbestreitbaren Wertes der Sammlung sollte der positive Gesamteindruck nicht dadurch getrübt werden, dass einzelne Betriebsvereinbarungen nur der Masse des Werkes dienen.


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