Berlit / Conradis / Pattar (Hrsg.), Existenzsicherungsrecht, 3. Auflage, Nomos 2019
Von RAin, FAin für Sozialrecht M. Schörnig, Düsseldorf
"Das Recht der Existenzsicherung kommt nicht zur Ruhe", bemerken die Herausgeber gleich im ersten Satz des Vorworts und damit ist der Kern dieses Rechtsbereiches bereits zutreffend umschrieben. Die Erstauflage erschien fast "zeitgleich" mit der Einführung des SGB II (Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Schreckgespenst "Hartz IV"), die zweite Auflage war eine Bestandsaufnahme und nun folgt 2019 eine weitere Bestandsaufnahme. Aus gutem Grund: Ein Buch jeweils zu einer gesetzgeberischen Reform im Sozialrecht herauszubringen, hieße, jährlich "eine neue Sau durchs Dorf zu treiben". M. a. W.: Was schon seit der ersten Ausgabe beklagt wurde – die rasante Abfolge von Sozialgesetzen -, bewahrheitet sich auch wieder. Von daher haben alle Autoren / Herausgeber / der Verlag gut daran getan, die große Reform des SGB II 2016 erst einmal passieren zu lassen und erste Folgen abzuwarten. Wie zu erwarten war, gehen die Auseinandersetzungen weiter und die so oft (aber nur in der Politik) geäußerte Feststellung, jetzt sei wirklich der "große Wurf" gelungen, ist reines Wunschdenken. Die Sozialgerichte sind so überlastet wie eh und je. Ein Ende des Wirrwarrs ist nicht abzusehen.
Unberechtigt ins Hintertreffen geraten andere ebenso wichtige Bereiche des Sozialrechts wie das Bundesteilhabegesetz, Änderungen im Asylbewerberleistungsrecht, die zurzeit von statten gehende Reform des SGB IX (die die gesamte Eingliederungshilfe enthalten wird) u. v. m.
Das Werk war immer schon auf dem aktuellen Gesetzgebungsstand und ist es auch weiterhin, nur sind diese betroffenen Personengruppen eben nicht so präsent im Alltag bzw., betroffen sind "alle", die Änderungen sind nicht so im kollektiven Bewusstsein wie eben Reformen des SGB II. Dementsprechend ist der Aufbau nicht streng sortiert nach "Das XY Gesetz und seine Änderungen" sondern z. B. nach gesellschaftlichem und rechtlichem Rahmen der Existenzsicherung (Teil I), Strukturprinzipien des Rechts der existenzsichernden Sozialleistungen (Teil II), Leistungsrecht (Teil III), wiederum unterteilt in Leistungsgrundsätze und -voraussetzungen (Teil III/1), Existenzsichernde Sozialleistungen (Teil III/2), Besondere Personengruppen und Bedarfslagen (Teil III/3), Teil IV Sicherung / Herstellung des Nachrangs), Leistungserbringung (V), Verwaltungsverfahren (VI), Gerichtliches Verfahren (VII).
Das "Handbuch" umfasst stattliche 1385 Seiten. Es beginnt mit einem Vorwort, geht weiter mit einer Inhaltsübersicht, einem Bearbeiter- und einem Literaturverzeichnis, dem inhaltlichen Teil sowie dem Stichwortverzeichnis. Die Teile sind in einzelne Kapitel unterteilt. Jedes Kapitel zählt zunächst die Rechtsgrundlagen auf (allerdings gibt es kein Abkürzungsverzeichnis, also keine Erläuterung, was beispielsweise AEUV bedeutet oder wofür VerfO EGMR steht), es verfügt über ein eigenes Inhaltsverzeichnis und hat dann verschiedene Abschnitte, deren Überschriften fett gedruckt und nochmals mit Buchstaben und römischen Ziffern betitelt sind, z. B. Kapitel 63: Rechtsschutz vor den europäischen Gerichten, A: Einleitung, I. Europäisches Primär- und Sekundärrecht.
Praxisrelevant ist vor allem Teil III: Das Leistungsrecht. Er wird durch ein Kapitel 12 eingeleitet, das jedem, der im Sozialrecht beratend tätig ist, nur wärmstens ans Herz gelegt werden kann und muss: "Abgrenzung der existenzsichernden Leistungssysteme" Würden sich mehr Berater mit diesem Kapitel befassen, könnten einige Probleme in der Praxis direkt vermieden werden. Z.B. müsste sich niemand, der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung bezieht, Gedanken über Erbenhaftung machen. Leider ist dieses Kapitel keine "Pflichtlektüre". Es steht auch gut versteckt "mittendrin". Eigentlich müssten die Herausgeber oder das Lektorat schon eingangs darauf hinweisen: "Lesen Sie bitte zuerst Seite 168 ff.!"
Leider ist das versäumt worden. Und es ist zu befürchten, dass dieses Kapitel einfach untergeht, überlesen wird (wozu eine Einführung lesen, wenn das für den Leser Wichtige, z.B. Leistungen für Auszubildende, erst 630 Seiten später folgt?).
Überhaupt ist der Aufbau aus juristischer Sicht absolut folgerichtig: Erst allgemeine Prinzipien, dann spezielle Bedarfslagen; also zunächst z.B. der Bedarfsdeckungsgrundsatz, dann Einsatz von Einkommen und Vermögen), aber wahrscheinlich wird dieser so denklogische Aufbau in der Praxis und dem Zeitdruck, unter dem Beratung zumeist steht, ignoriert werden. Z.B. sucht der juristisch nicht Vorgebildete zum Stichwort "Anspruchsübergang" im Stichwortverzeichnis und findet vorrangig den Begriff in allen Facetten in Kapitel 40. In erster Linie dreht es sich dort um SGB II. Das SGB XII wird auch erwähnt, aber m.E. wird der Unterschied zwischen den verschiedenen Leistungen des SGB XII (eben nicht nur Sozialhilfe), nicht deutlich genug hervorgehoben.
Jedenfalls nicht deutlich genug für ein Handbuch. Damit komme ich zum Punkt meines Fazits, der 95 % aller anderen Rezensenten widerspricht: Ich empfinde es nicht als Handbuch. Zumindest nicht als praxistaugliches. Dafür enthält es zu viel an Grundsätzlichem und die einzelnen Rechtsgebiete werden dadurch auseinandergerissen. Am SGB II lässt sich dieser Kritikpunkt verdeutlichen: Der Bedarfsdeckungsgrundsatz steht in Teil II, Kap. 9, Seite 111. Eingliederungsvereinbarung und Leistungsabsprache in Teil III / I, Kap. 16, Seite 264. Bedarfs-, Einsatz-, Haushaltsgemeinschaft in Teil III / Im, Kap. 20, Seite 321. Bedarfsdeckung ist natürlich ein Begriff des SGB II und des SGB XII. Dementsprechend findet sich dann in Kap. 9 auch Grundlegendes zum Bedarfsdeckungsgrundsatz als Teil der Strukturprinzipien, Faktizitätsprinzip, Individualisierungsgrundsatz. Das ist alles richtig, aber ein Handbuch für die Praxis wird damit überfrachtet.
Es ist eher ein Lehr- denn ein Handbuch. Oder, wie in einer Rezension der Vorauflage zu lesen war: ein Kompendium. Also solches sollte es in keinem Regal fehlen.