Hlava, Barrierefreie Gesundheitsversorgung, 1. Auflage, Nomos 2018
Von RAin, FAin für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf
In Deutschland leben rund 10,2 Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung, davon sind ca. 7,4 Millionen Schwerbehinderte; Tendenz steigend. In der Regel ist dieser Personenkreis in stärkerem Maß auf eine Gesundheitsversorgung angewiesen. Ein für jedermann zugängliches und damit barrierefreies Gesundheitssystem ist daher der Idealzustand, der angepeilt wird. In besonderem Maß wird das durch die UN Behindertenrechtskonvention verdeutlicht, die in praktisch allen Ländern der Welt für eine stärkere Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft und damit auch eine bessere gesundheitliche Versorgung (für jedermann, nicht nur für behinderte Menschen) sorgen soll. Barrierefreie Gesundheitsversorgung ist also ein Mittel zum Zweck. Wie sie in Deutschland umgesetzt wird in rechtlicher Hinsicht, ist der Inhalt dieses Buches. Dementsprechend lautet der Untertitel auch "Rechtliche Gewährleistung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsdurchsetzung".
Das Buch ist die Dissertation des Autors im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kassel. Infolgedessen wird das Thema hier rundum beleuchtet und barrierefreie Gesundheitsversorgung im einfachen Recht ist mithin ein Bestandteil des Buches, aber nur einer von acht.
Der gesamte Aufbau des Buches wird vom Autor selbst schon am Anfang erklärt: Innerhalb einer Einführung (Teil A) wird das Recht der Gesundheitsversorgung kurz erläutert. Es folgt die rechtshistorische Entwicklung (B) in der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn das Behindertenrecht in Deutschland eine lange Tradition hat, begann die Gleichstellung – und damit der Weg zur Barrierefreiheit - erst nach 1945. Prägend dafür sind nicht nur nationale Gesetzgebung, sondern Rechtsquellen (C), die hier strikt hierarchisch wiedergegeben werden: Völkerrecht (Menschenrechte), UN – Behindertenrechtskonvention (inkl. Stellung der UN – BRK im Unionsrecht und im deutschen Recht), Unionsrecht, Verfassungsrecht. Es ist bezeichnend, daß der Abschnitt über "Unionsrecht" der kürzeste des ganzen Buches ist. Dass das Verfassungsrecht relativ kurz abgehandelt wird, ist nachvollziehbar: Verfassung ist die Basis für das gesamte deutsche Recht und dieses wird in den Teilen D, E, F und G erschöpfend dargestellt. Aber auf europarechtlicher Ebene ist die Regelungsdichte gering. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die nationalen Gesetzgeber hier das Sagen haben.
Erst dann folgt im Teil D der Teil mit der größten praktischen Bedeutung im einfachen Recht: Hier geht es zunächst um Definitionen der Begriffe "Behinderung" und "Barrierefreiheit". Alsdann werden die Teilgebiete Öffentliches Recht und Zivilrecht abgehandelt. Zwar steht der Abschnitt "barrierefreie Gesundheitsversorgung im Kontakt mit öffentlichen Trägern" ganz zu Anfang, aber hier geht es um Barrieren aller Art in der öffentlichen Verwaltung: Nicht nur medizinische Versorgung, auch Barrierefreiheit baulicher Anlagen, barrierefreie Kommunikation und Dokumente, leichte Sprache und barrierefreie Informationstechnik.
Das Sozialrecht, das wohl jedem als erstes einfällt, wenn er sich mit Behinderung oder Gesundheitsversorgung beschäftigt, ist hierbei nur ein kleiner, aber immens wichtiger Teil. Das sozialrechtliche Benachteiligungsverbot ist hier der Ausgangspunkt. Es gilt von jeher für alle Betroffenen, ergänzt durch die Berücksichtigung besonderer Belange behinderter Menschen. Mindestens ebenso bedeutsam sind zivilrechtliche Vertragsgestaltungen, im Besonderen geprägt durch das zivilrechtliche Benachteiligungsverbot (kodifiziert im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG, und im Behindertengleichstellungsgesetz – BGG).
Das AGG und das BGG geben aber keine individuellen Ansprüche eines behinderten Menschen gegenüber Institutionen oder anderen Menschen. Vielmehr sind sie gleichsam prägend und gestalten solche Rechtsverhältnisse. Sie sind immer dann heranzuziehen, wenn ein behinderter Mensch seine Rechte wahrnehmen möchte. Wie kann der Einzelne diese rechtlichen Regelungen für sich nutzen; wie wirken sie sich auf sein tägliches Leben aus und vor allem: Wie kann er seine Rechte, die sich aus Gesetzen in Verbindung mit AGG ergeben, durchsetzen (Stichwort individuelle Rechtsdurchsetzung)? Hier wird auch ein Schadensersatzanspruch erläutert, der sich nur auf den Ersatz materiellen Schadens bezieht und in der Praxis schwer durchzusetzen sein dürfte. Dieses wird in Teil E behandelt.
Die gleiche Problematik, jetzt aber auf kollektiver Ebene, ist Inhalt von Teil F. Rechtsdurchsetzung für den Einzelnen ist schwer. Dieses hat der Gesetzgeber erkannt und erleichtert den Weg durch Zielvereinbarungen (zwischen Verbänden behinderter Menschen und Unternehmensverbänden) und Verbandsklagen sowie gesetzliche Prozessstandschaften. Vorbild ist das Zusammenspiel von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Ob sich dieses Modell übertragen läßt und bewährt, muß sich erst noch zeigen.
Ein eigener Teil (G) ist die Behördliche Rechtsdurchsetzung. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes "ein Kapitel für sich". Denn vordergründig handelt es sich um Sozialrecht; es ist jedoch so stark von wirtschaftlichen Gedanken durchzogen - Richtlinienkompetenz des G – BA (= Gemeinsamer Bundesausschuss = Patientenvertetung), Versorgungsplanung, Zulassungsrecht, Versorgungsverträge, Krankenhausplanung, Vergabeverfahren, Gewerbeaufsicht, Leistungserbringer -, dass man es erst einmal nicht in die Materie Sozialrecht einordnen würde.
Letztlich endet das Buch (Teil H) mit einer Zusammenfassung und Handlungsvorschlägen.
Die Lektüre dieser umfassenden Abhandlung hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Das liegt beileibe nicht am Buch oder am Autor sondern an der Materie: Gerade weil hier jeder nur erdenkliche Aspekt der Entwicklung der Barrierefreiheit aufgezeigt ist, fällt auf, was fehlt: Das Europarecht ist nur ein verschwindend kleiner Teil, - und strafrechtlich wird in Deutschland eine Diskriminierung nicht geahndet. Im Endeffekt bleiben alles privatrechtlich zumindest nur leere Worte. Solange es keine Sanktionen, nicht einmal im Ordnungswidrigkeitenrecht gibt, ist das alles nur ein stumpfes Schwert. Die Gleichstellung behinderter Menschen soll nicht nur vor Behörden und auf dem Papier stattfinden, sondern auch im Umgang miteinander.