Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, 1. Auflage, Mohr Siebeck 2018
Von Johann v. Pachelbel, Essen
Prof. Gusy legt pünktlich zum hundertsten Jahrestag des Inkrafttretens der Weimarer Reichsverfassung am 14. August 2019 eine Rezension derselben vor. Auf knapp 300 Seiten analysiert Gusy die Entstehungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung, ordnet sie in die Staatsrechtswissenschaft des beginnenden 20. Jahrhunderts ein und analysiert schließlich ihre Inhalte. Dabei bleibt die Perspektive eine allgemeine. In einzelne Normen zoomt Gusy nicht hinein, stattdessen extrahiert er die der Weimarer Republik zugrundeliegenden Konzepte: Demokratie, Parlamentarismus, Funktion des Reichspräsidenten, Verfassungsschutz, Grundrechte. Am Ende dieses verfassungsgeschichtlichen Streifzugs stellt Gusy ein paar Grundthesen zur Weimarer Reichsverfassung auf, welche sich um die zentrale Frage drehen, ob die Weimarer Reichsverfassung eine gute oder eine schlechte Verfassung war.
Die Grundthesen werden in einem vorangestellten ersten Kapitel überblickartig dargestellt. Die Weimarer Reichsverfassung sei als Antithese gegen die Monarchie und ein Rätesystem zu interpretieren. Ihr späteres Scheitern war der Weimarer Reichsverfassung nicht immanent. (gegen die Geburtsfehlertheorie). Die Weimarer Reichsverfassung solle selbst kein Grund für das Scheitern der Weimarer Republik gewesen sein.
Die Analyse der Entstehungsgeschichte liefert spannende Einblicke, etwa die Erkenntnis, dass der Text der Weimarer Reichsverfassung höchstens ein Zugang zum Verfassungsrecht der Weimarer Republik sein könne. Denn die tatsächliche konturscharfe Herausbildung desselben habe erst durch die Konkretisierung der Verfassungssätze durch Politik und Judikative stattgefunden. Es wird Hugo Preuß‘ Rolle und Bedeutung in der Entstehung der Weimarer Republik untersucht und geschlossen, dass er maßgeblichen Einfluss von Anfang bis zum Ende der Verfassungsbildung gehabt habe, jedoch viele Ideen nicht ausschließlich seine waren und auch von anderen Seiten angestoßen wurden. Eine vergleichende Einordnung des 1919 geschaffenen Verfassungstexts mit zeitgenössischen Verfassungen zeigt die Modernität und Innovation der Weimarer Reichsverfassung in ihrer Zeit.
Für fortgeschrittene Staatsrechtler ist das Kapitel zu empfehlen, in dem die Weimarer Verfassung in den sogenannten „Richtungsstreit“ eingeordnet wird. Die Darstellung des am Anfang des 20. Jahrhunderts tobenden Streits um die rechtstheoretischen Grundlagen der Staatswissenschaft (Positivisten vs. Nicht-Positivisten) und ihrer herausragenden Vertreter ist sehr erhellend und fügt der Analyse der Weimarer Reichsverfassung eine intellektuell herausfordernde Komponente hinzu.
Die Untersuchung des der Weimarer Reichsverfassung zugrundeliegenden Demokratiekonzepts bringt nicht viel Neues. Grundlegendes zu Demokratie und Volkssouveränität wird dargestellt. Interessant ist die Bewertung direktdemokratischer Elemente in der Weimarer Reichsverfassung. Gusy schließt, dass diese keineswegs zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung und der Weimarer Republik beigetragen haben.
Spannend wird es sodann, wenn Gusy das Parlamentarismus-Konzept der Weimarer Reichsverfassung untersucht und bewertet, inwiefern dieses der Grund für die politische Instabilität der Weimarer Republik war. Geläufige Thesen wie zum Beispiel die Kausalität der fehlenden Sperrklausel für das parlamentarische Chaos in der Weimarer Republik werden nicht unterstützt. Im Gegenteil: Gusy argumentiert, dass die Weimarer Reichsverfassung eine Grundlage gelegt hat, auf der ein stabiles parlamentarisches Regierungssystem möglich gewesen wäre. Der Reichstag sei ein Ort nicht ausschließlich des Chaos, sondern auch der guten Debattenkultur, politischen Verantwortungsbewusstseins und Kompromissfähigkeit gewesen. Gusy sieht die Probleme des Weimarer Regierungssystems stattdessen in den Akteuren. Die Weimarer Republik sei von außen zerstört worden, sei unterwandert worden, bis die zentralen politischen Ämter von Gegnern der Republik besetzt worden seien. Dies ist vielleicht eine sehr positive Sichtweise auf die Voraussetzungen, die die Weimarer Reichsverfassung für das parlamentarische Regierungssystem gelegt hat.
Sehr erhellend wird dargestellt, wie die Notkompetenzen des Reichspräsidenten immer weiter ausgelegt wurden. Gusy stellt somit überzeugend dar, dass die Weimarer Reichsverfassung einen Gebrauch der Notkompetenzen, der im Endeffekt zum Ende des parlamentarischen Regierungssystems führte, nicht vorsah. Besonders sichtbar wird dies bei der Betrachtung der Teile der WRV, die „notverordnungsfest“ sein sollten. Anfangs hätte noch die gesamte Weimarer Reichsverfassung als notverordnungsfest gegolten, am Ende nur noch einzelne Teile. Diese Verschiebung führt dem Leser vor Augen, wie das System der WRV schleichend außer Kraft gesetzt wurde.
Das Grundrechtesystem der Weimarer Reichsverfassung wird nicht überraschend als modern und seiner Zeit voraus bewertet. Es werden die vielen sozialen Grundrechte hervorgehoben, die dem Staat Leistungspflichten auferlegen. Gusy analysiert, wie diese jedoch immer mehr Gewicht verlieren, je schwächer die Exekutive der Weimarer Republik wurde. Die Ausübung der Grundrechte habe sich dadurch mehr in Richtung der Judikative verschoben, die notwendigerweise den Abwehrgrundrechten mehr Raum zur Entfaltung boten.
Gusy schließt mit ein paar grundlegenden Bewertungen der Weimarer Reichsverfassung. Sie sei eine gute Verfassung gewesen. Sie habe Chancen geboten für ein gutes und stabiles Staatssystem, welche nicht genutzt wurden. Die Angebote der Weimarer Reichsverfassung seien im Endeffekt weit über die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Weimarer Republik hinausgegangen. Die Weimarer Reichsverfassung war somit eine gute Verfassung in schlechten Zeiten.