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Rezension: BGB Reisevertrag

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Jan Dirk Harke (Hrsg.) Reisevertrag – §§ 651a-651y BGB, Art. 46c und Art. 250-253 EGBGB, Fluggastrechte-VO, 1. Auflage, C.H. Beck 2018

Von Rechtsanwalt / Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht / Fachanwalt für Arbeitsrecht Wilfried J. Köhler, Köln



Reiserecht, ein Rechtsgebiet, das vielfältige Interessen weckt und Anforderungen stellt. Da sind auf der einen Seite als Interessenten die Richterinnen und Richter, die über Ansprüche aus Pauschalreiseverträgen oder aus Luftbeförderungsverträgen zu entscheiden haben, auf der anderen Seite Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die solche Anspruchsteller außergerichtlich und gerichtlich vertreten. Schließlich weckt das Rechtsgebiet auch wissenschaftliches Interesse.

Der von Jan Dirk Harke herausgegebene Großkommentar bildet bei den Bearbeitern zumindest zwei der genannten Interessenkreise ab. Die Bearbeiter des Kommentars kommen aus der gerichtlichen Praxis – auch mit wissenschaftlichem Hintergrund – und aus dem Bereich der Wissenschaft. Die rechtsanwaltliche Seite ist im Kommentar nicht abgebildet, obwohl es auch bei den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ausgewiesene Spezialistinnen und Spezialisten für Reiserecht gibt.

Der Kommentar behandelt in einem ganz beachtlichen Umfang, nämlich ca. 600 Seiten, die reiserechtlichen BGB-Normen, §§ 651a bis 651y, auf ca. 50 Seiten die mit dem Reiserecht in Verbindung stehenden Vorgaben des EGBGB und schließlich sehr umfassend die Fluggastrechte-VO (ca. 300 Seiten).

Für die rechtsanwaltliche Praxis, insbesondere für die praktische Arbeit von nicht-spezialisierten Rechtsanwälten, die sich gleichwohl mit dem Reiserecht beschäftigen müssen und wollen, vermittelt der Großkommentar einen nicht zu unterschätzenden Erkenntnisgewinn. Spezialisierte und nicht-spezialisierte Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte werden im Kommentar schnell Antworten auch auf seltene Rechtsprobleme finden.

Wichtig für die Beurteilung von gesetzlichen Regelungen ist immer ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte; Mitunter kann man als Rechtsanwender bestimmte gesetzliche Regelungen nur (richtig) auslegen, wenn man ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte sowie die systematischen Beziehungen zu dem Gesetzeswerk, in dem die Regelungen „eingelagert“ sind, mit in die Überlegungen einbezieht. Wertvoll ist deshalb, dass – knapp, gleichwohl sehr einprägsam und verständlich – sowohl die Entstehungsgeschichte reiserechtlicher Vorschriften (bei § 651a BGB, Rn. 3 – 26) als auch die systematische Einordnung des Reiserechts in das BGB und auch die Vorgaben des Unionsrechts dargestellt werden (§ 651a BGB, Rn. 28 – 108). Bei der Fluggastrechte-VO werden nicht nur die „unionsrechtlichen Grundlagen und Einflüsse“ und die „Praktische Relevanz“ der Verordnung, sondern auch die Auslegungsgrundsätze für unionsrechtliche Bestimmungen dargestellt (Art. 1 Fluggastrechte-VO, Rn. 2 – 12). Bei den Auslegungsgrundsätzen wird erneut ins Bewusstsein gerufen (vgl. Rn. 12), dass die in allen Mitgliedsstaaten der EU anzuwendenden europäischen Regelungen autonom auszulegen sind, also unabhängig vom innerstaatlichen Methodenverständnis. Das wichtigste Auslegungskriterium bei europäischen Regelungen ist der Sinn und Zweck der Bestimmung.

Der Hinweis auf die autonome Auslegung des Unionsrechts findet sich in zahllosen Entscheidungen des EuGH und muss auch von Juristen, die in der deutschen Rechtstradition verhaftet sind, akzeptiert werden.

Die Interpretation unionsrechtlicher Bestimmungen ist dem EuGH vorbehalten. Die Gerichte haben schon bei geringen Zweifeln über die Auslegung solcher Bestimmungen den EuGH anzurufen – was auch verfassungsrechtlich bedeutsam ist (vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88 - 2 BvL 13/88 – 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159). Steinröttermerkt an, dass der für Reiserecht zuständige Senat beim BGH restriktiv mit der Vorlagepflicht umgeht und die Zahl der Vorlageverfahren „erstaunlich gering“ sei (Art. 1 Rn. 14). Dem BGH wirft er eine zu „nonchalante“ Handhabung der Vorlagepflicht im Zusammenhang mit dessen Entscheidung vom 17.3.2015 – X ZR 35/14, NJW-RR 2015, 823 = MDR 2015,577, vor; der BGH hatte einem kostenlos beförderten Kleinkind auch dann keinen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Fluggastrechte-VO zugesprochen, wenn sich die Entgeltfreiheit aus einem für die Öffentlichkeit verfügbaren Tarif ergibt. Der BGH hielt ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV für nicht geboten, da „keine vernünftigen Zweifel an der Auslegung der hier entscheidungserheblichen Bestimmungen der Verordnung bestehen“. Dass das bei dem entschiedenen Fall wohl eher nicht zutraf, hat Steinrötter in seiner Anmerkung zur BGH-Entscheidung dargelegt (jurisPR-IWR 2/2015 Anm. 4).

Für die rechtsanwaltliche Praxis eine große Erleichterung sind die an einigen Stellen des Kommentars zu findenden tabellarischen Darstellungen.

Die Anwendung des § 651d BGB, der die Informationspflichten des Reiseveranstalters beinhaltet, muss in der „Zusammenschau mit den Detailvorgaben des Art. 250 EGBGB angewendet werden“ (siehe § 651d Rn. 4). Zu den einzelnen Grundanforderungen des § 651d BGB werden die einschlägigen Bestimmungen des Art. 250 EGBGB zugeordnet, die die Einzelvorgaben detailliert – und teilweise mit Musterformblättern – darstellen. Ein längeres Suchen erübrigt sich dadurch.

Bei Reisemängeln sind für die rechtsanwaltliche Praxis Bewertungsmaßstäbe oder Bewertungsanhaltspunkte von erheblicher Bedeutung. Erfreulich, dass im Kommentar, umfangreiche Hinweise hierzu gegeben werden. In § 651m BGB findet sich eine – an der Frankfurter Tabelle orientierte – Tabelle (vgl. § 651m BGB Rn. 164), die die Minderungsmaßstäbe bei Reisemängeln darstellt. Die Frankfurter Tabelle wurde in den 1980er Jahren vom Landgericht Frankfurt entwickelt und enthielt nur Minderungs-Regeln (Prozentsätze pp), die vom Landgericht selbst in Entscheidungen festgelegt worden waren. Aktueller – und nicht so ortsbezogen wie die Frankfurter Tabelle – sind jedoch die ADAC-Mängeltabelle, der „Mainzer Spiegel“ und die „Kemptener Tabelle“, worauf Kramer (in. § 651 m BGB Rn. 165 ff) hinweist. Außerdem wird dort auf die Rechtsprechungsübersichten zu den reiserechtlichen Minderungsquoten in der Zeitschrift VuR (Verbraucher und Recht, Nomos Verlag) verwiesen. Gerade für denjenigen Rechtsanwender, der nur selten Reiserecht betreibt, ein wichtiger Hinweis, und für Spezialisten ein „Erinnerungsposten“.

Eine ganz eminent wichtige und arbeitserleichternde Tabelle findet sich im Rahmen der Fluggastrechte-VO (Art. 5 Rn 40.2 f). Art. 5 Abs. 3 dieser VO sieht vor, dass das ein Luftfahrtunternehmen dem Flugpassagier bei Annullierung des gebuchten Fluges keine Ausgleichsleistung (Euro 250 bis 600 pp) erbringen muss, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht. Es ist klar, dass diese Frage Gegenstand zahlreicher Entscheidungen (von Amtsgerichten bis zum EuGH) ist. Die erwähnte Tabelle führt über mehrere Seiten alle wichtigen Pro- und Contra-Entscheidungen (Art. 5 Abs. 3 bejaht / abgelehnt) zu dieser Rechtsfrage auf und weist die Fundstellen nach.

Einen Fehler meine ich jedoch, entdeckt zu haben. In der Tabelle (Rn. 40.3) und in den späteren Erläuterungen (vgl. Rn. 72.1 ff und die dortigen Fußnoten 128 – 133) wird zum Problem „Wilder Streik“eine EuGH-Entscheidung (Entscheidungsname „Krüsemann“) genannt und mit dem European Case Law Identifier „ECLI:EU:C:2017:743“ belegt. Unter „ECLI:EU:C:2017:743“ ist aber nur der Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22.9.2017 zu finden, dass die Rechtssache C-196/17 aus dem Register des Gerichts gestrichen wird, weil das Amtsgericht Hannover das Vorabentscheidungsersuchen zurückgenommen hat. Die Entscheidung „Krüsemann“u.a. (EuGH, Urt. v. 17.4.2018 – C-195/17 – und weitere Aktenzeichen) hat die Bezeichnung „ECLI:EU:C:2018:258“. Diese Entscheidung ist u.a. veröffentlicht in NJW 2018, 1592 = EuZW 2018, 457 = MDR 2018, 726.

Der EuGH hat in der vorgenannten Entscheidung die Anwendung des Art. 5 Abs. 3 und die Befreiung des Luftfahrtunternehmens von einer Ausgleichsleistungbei einem wilden Streik abgelehnt, wenn dieser Streik darauf zurückzuführen ist, dass das Unternehmen überraschend Umstrukturierungsmaßnahmen ankündigt und sodann spontan ein Aufruf zur Arbeitsabwesenheiten (Krankmeldungen) von den Arbeitnehmer selbst (und gerade nicht von den institutionalisierten Arbeitnehmervertretern) erfolgt.

Steinröttererscheint es fraglich (Art. 5 Rn. 74), ob die BGH-Rechtsprechung, wonach bei Streiks die Entlastung gemäß Art. 5 Abs. 3 grundsätzlich greift, aufgrund dieser EuGH-Entscheidung weiterhin haltbar ist. Es könne ein „erst-recht-Schluss“ gezogen werden – wenn bei einem wilden Streik keine Entlastung möglich sei, dann erst recht nicht bei einem „rechtmäßigen“ Streik. Ein solcher Schluss wiederum erscheint mir fraglich. Beide Streikformen sind – auch nach der Entscheidung des EuGH – nicht vergleichbar. Der rechtmäßige Streik folgt bestimmten Regeln und wird – anders als beim wilden Streik – von den institutionalisierten Arbeitnehmervertretern, nämlich den Gewerkschaftsgremien, nach bestimmten Satzungsvorgaben der Gewerkschaften ausgerufen. Er ist erst nach Beendigung der Friedenspflicht zulässig und beruht auch nicht auf überraschenden und plötzlichen Entscheidungen von Unternehmensführungen.

Im Übrigen hat mich der von Steinrötterbearbeitete umfangreiche Teil „Fluggastrechte-VO“ sehr beeindruckt – ohne damit die anderen Bearbeitungsabschnitte hintanstellen zu wollen. Alle nach meiner Auffassung relevanten Rechtsprobleme sind im Fluggastrechte-Teil sehr anschaulich dargelegt.

In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, wann eine Änderung der wesentlichen Eigenschaften der Reiseleistung vorliegt und welche Rechte der Reisende dann hat. Bei § 651 BGB Rn 270 f findet man im Großkommentar hierauf Hinweise und einzelne Beispiele. Schön wäre es aber gewesen, auch hier eine Tabelle in den Großkommentar aufzunehmen, in der das Zusammenspiel BGB- und EGBGB-Vorschriften beispielhaft dargestellt und die ergangene Rechtsprechung hierzu ausgewertet worden wäre. Wie wichtig dies ist, zeigt auch die Entscheidung des BGH vom 16.1.2018 – X ZR 44/17, MDR 2018, 392 = DAR 2018, 199, in der der BGH davon gesprochen hat, dass sich entgegen der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung „eine erhebliche Änderung einer Reiseleistung nicht bereits daraus[ergibt], dass sich die geänderte Reiseleistung als mangelhafte Erbringung der (ursprünglich) vereinbarten Reiseleistung darstellt“. Damit würde „das Kriterium der Erheblichkeit der Änderung weitgehend seines Inhalts beraubt und[es] entstünde ein Wertungswiderspruch zu den Voraussetzungen des Kündigungsrechts nach § 651e BGB, das nicht nur einen Mangel, sondern eine mangelbedingte erhebliche Beeinträchtigung der Reise voraussetzt … und auch bereits vor Reiseantritt ausgeübt werden kann, wenn feststeht, dass der Reiseveranstalter die Reise nicht mangelfrei erbringen wird“. Der BGH weist sodann darauf hin, nicht jede Änderung einer wesentlichen Reiseleistung genüge für das Kündigungsrecht.

Eine eingehende tabellarische Darstellung würde – wie an anderer Stelle im Kommentar vorbildlich praktiziert – die praktische und insbesondere schnelle Arbeit sehr erleichtern.

Abgesehen von diesem (auf die Zukunft gerichteten) Wunsch, halt ich aber den Kommentar für außerordentlich praxistauglich und kann ihn jedem praktizierenden Rechtsanwender für die tägliche Arbeiten empfehlen – aber auch und gerade für die gelegentliche Arbeit im Reiserecht.


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