Udsching / Schütze, SGB XI, Kommentar, 5. Auflage, C.H. Beck 2018
Von RA'in, FA'in für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf
Dieser Kommentar zur Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) "verdankt" seine Entstehung den Änderungen, die dieses Rechtsgebiet durch die drei Pflegestärkungsgesetze erfahren hat. Grundlegend reformiert wurde der Begriff der Pflegebedürftigkeit.
Die Herausgeber stammen aus der Sozialgerichtsbarkeit: Prof. Dr. Peter Udsching, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a.D., war lange Zeit in dem für die Pflegeversicherung zuständigen Senat des BSG tätig und hat die Pflegeversicherung seit ihrer Entstehung für lange Zeit in der richterlichen Tätigkeit und auch später die Gesetzgebung begleitet. Dr. Bernd Schütze ist Richter am Bundessozialgericht. Auch die weiteren beteiligten Autorinnen und Autoren stammen hauptsächlich aus der Sozialgerichtsbarkeit; daneben aus der anwaltschaftlichen, verbandlichen und kommunalen Praxis.
Im vorliegenden Kommentar zum SGB XI mussten in der Neuauflage die durch die Pflegestärkungsgesetze herbeigeführten und teilweise grundlegenden Rechtsänderungen verarbeitet werden. Insbesondere durch die Einführung eines teilhabeorientierten Begriffs der Pflegebedürftigkeit hat das SGB XI einen Paradigmenwechsel erfahren. Einerseits ist das zu begrüßen: Damit ist mit einem der zentralen Versäumnisse, manche sprachen auch von einem grundlegenden Fehler, der Pflegegesetzgebung aufgeräumt worden. Andererseits ist das Pflegeversicherungsrecht durch diese Änderungen nicht überschaubarer geworden, im Gegenteil, die Komplexität hat zugenommen.
Optisch handelt es sich wie bei allen Kommentaren des Beck-Verlages mit orangefarbenem Einband um das DIN A5 Format, 899 Seiten stark. Der Text ist im Blocksatz, wichtige Schlagwörter sind fett hervorgehoben. Nach dem Vorwort folgen Inhalts-, Bearbeiter-, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis. Ergänzt wird die Kommentierung des Gesetzestextes mit der (dringend erforderlichen, dazu später mehr) Tabelle der Einzelpunkte in den Modulen 1-6 sowie als Anlage 2 die Bewertungssystematik der Punkte und gewichteten Punkte.
Bei der Kommentierung der Sozialen Pflegeversicherung stehen nach wie vor das Leistungsrecht sowie das Leistungserbringerrecht im Vordergrund, hier jedoch zusätzlich die Private Pflegeversicherung (§§ 110, 111, 143 SGB XI) und (sozusagen) "begleitende" Rechte = Rechte / Anspruchspositionen, die nicht nur die zu Pflegenden innehaben, sondern auch die nicht - professionellen Pflegepersonen: Aufklärung und Auskunft, die Pflegeberatung, die Beratungsgutscheine und die Pflegestützpunkte (§§ 7 bis 7c SGB XI), Modellvorhaben (§§ 123 bis 125 SGB XI). Außerhalb dieser Bereiche enthält das SGB XI noch eine Reihe von Vorschriften, die sich so in anderen Sozialversicherungszweigen nicht finden. Das gilt für die Zulagenförderung der privaten Pflegevorsorge (§§ 126 bis 130 SGB XI) und die Bildung eines Pflegefonds (§§ 131 bis 139 SGB XI).
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit ist komplett reformiert worden und daraus folgt die Neufassung des Leistungsrechts. Weiter ist das Vergütungsrecht modifiziert und die Qualitätssicherung mit der Einführung eines Qualitätsausschusses institutionell breiter aufgestellt worden.
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit wird nun teilhabeorientiert gesehen (schon im Vorgriff auf das Bundesteilhabegesetz?). Die enge Verknüpfung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit mit dem Hilfebedarf an Verrichtungen wurde aufgegeben und ersetzt durch eine Bewertung menschlicher Fähigkeiten und Verhaltensweisen. Im Ergebnis geht es jetzt um das Ausmaß der Beeinträchtigung von Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten und Gestaltung von Lebensbereichen. Dadurch wird das Ausmaß der Abhängigkeit von fremder Hilfe klar.
Statt der bisherigen Pflegestufen erhalten Pflegebedürftige nach der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten einen von fünf Pflegegraden (§ 15 SGB XI). Für das entsprechende Assessment ist ein neues Begutachtungsinstrument vorgesehen.
Die "praktische Prüfung" anhand der einzelnen Module ist jetzt auf die noch vorhandenen Fähigkeiten auf physischem und psychischem Gebiet fokussiert, also wesentlich detaillierter. Damit einher geht, dass sie viel umfangreicher als vorher geworden ist. Aber endgültig unhandlich wird das Ganze erst durch die Umrechnung von erzielten Punkten in gewichtete Punkte. Hierzu dient der abgedruckte Anhang Nr. 2 und es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu prophezeien, dass Streitigkeiten hier schon vorprogrammiert sind.
Das Leistungsrecht ist mittlerweile sehr unübersichtlich geworden, weshalb man zuerst einen Blick auf die Vorbemerkungen dazu (Vorbemerkungen zu §§ 28 – 45 f) werfen sollte.
Im Grunde genommen ist nach § 45 f der Teil, der Pflegebedürftige und Pflegepersonen betrifft, abgeschlossen; danach geht es um die Organisation der SPV, um deren Finanzierung sowie die Beziehung zu Leistungserbringern.
Im Bereich der Vergütungsregelungen hat sich durch die drei Pflegestärkungsgesetze einiges getan. Neu ist die Einführung der einrichtungseinheitlichen Eigenanteile (EEE) bei der Bemessung der Pflegesätze in stationären Einrichtungen (§ 84 Abs. 2 Satz 3 SGB XI). Eine der dabei auffälligsten Veränderungen ist die voraussichtliche Pflegegradverteilung in einer Einrichtung zur Bestimmung des Aufwands der Versorgung (§ 84 SGB XI). Das Vergütungsrecht der Pflegeversicherung ist mittlerweile fast genauso verschachtelt wie das Vergütungsrecht der Krankenhausleistungen oder der vertragsärztlichen Leistungen. Dieser detaillierte, klare Kommentar hilft, den Durchblick zu bewahren. Auch die Qualitätssicherung ist durch die Pflegestärkungsgesetze stark verändert worden.
Wie eingangs erwähnt, hat durch die Änderungen die Komplexität stark zugenommen. Aber alle diese Änderungen waren dringend notwendig. Zur Beherrschung dieser Materie durch die rechtsanwendende Praxis und durch die Gerichte trägt der vorliegende Kommentar wie schon in den Vorauflagen hervorragend bei. Es fällt im Gegensatz zu anderen Kommentaren aus der "Orangenen Reihe" auf, dass hier relativ wenig Rechtsprechung zitiert wird. Aber zum einen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt zu den einzelnen Pflegemodulen noch keine, zum anderen wird für die Praxis die Lesbarkeit dadurch erhöht. Ein so klar und übersichtlich gestalteter Kommentar wie der vorliegende kann es sich auch erlauben, auf verwirrende Literaturübersichten und Zitierungen in den Kommentierungstexten zu verzichten.
Bei aller Praxisorientierung verlieren die Autoren nicht die wissenschaftliche Seite aus dem Blick. Kurz: ein "Muss" für alle, die sich mit dem Recht der Sozialen Pflegeversicherung befassen.