Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes, 3. Auflage, Mohr Siebeck 2016
Von Wirtschaftsjurist Christian Paul Starke, LL.M., Kreuztal
Die Idee der Freiheit bestimmt, geprägt von den schrecklichen Erfahrungen der totalitären Herrschaft im dritten Reich, maßgeblich unsere deutsche Verfassung. Dies wird bereits an der zentralen Stellung der Grundrechte im ersten Titel des Grundgesetzes deutlich, die in ihrer primären Funktion als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat dienen. Eingriffe hierein sind grundsätzlich nur zulässig, soweit die Grundrechte selbst entsprechende Vorbehalte formulieren. An diese Vorgaben ist insbesondere auch der Gesetzgeber selbst gebunden, nachdem noch die Weimarer Verfassung mangels solcher Regelungen durch Legislative selbst zur Unrechtsordnung umgestaltet worden war. Hieraus wird ersichtlich, dass das Grundgesetz zuvorderst von einem eigenverantwortlichen Menschen ausgeht, der für sein Leben und Glück grundsätzlich selbst verantwortlich ist und in das der Staat nur äußerst zurückhaltend eingreifen darf.
Der Autor des Werkes, Walter Schmitt Glaeser, mittlerweile stolze 83 Jahre alt, zählt mit Recht zu den großen Denkern des deutschen Öffentlichen Rechts. Er blickt auf eine beeindruckende Karriere an Universität, bayerischem Verfassungsgerichtshof und in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zurück. Obwohl längst emeritiert, beschäftigt er sich doch weiter stetig mit den wichtigen Fragen in Deutschland und scheut auch nicht davor zurück, seine Meinung zu gesellschaftlichen (Fehl-) Entwicklungen in populären Zeitungen öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. So kann es nicht überraschen, dass er sich in seinem neusten Werk, das in diesem Jahr bereits in der dritten Auflage erscheint, einmal mehr mit den Sorgenkindern im deutschen Staate, Freiheit und Demokratie, auseinandersetzt, die angesichts von terroristischen Bedrohungen, Zuwanderungsströmen aber auch einer in Teilen der Bevölkerung grassierenden Politikverdrossenheit und einem Mangel an der mit Freiheit grundsätzlich immer auch einhergehenden Verantwortung steten Gefahrenpotentialen sowohl von innen als auch von außen ausgesetzt ist.
Das Werk umfasst insgesamt über 350 Seiten. Es kommt als Paperback und neigt dementsprechend leider zu Verformungen durch das Lesen. Das Papier ist grifffest und sehr haltbar. Am Schluss findet sich ein ausführliches Stichwortverzeichnis, in dem sich auch solch umgangssprachliche Suchbegriffe wie die „Wegwerfdemokratie“ finden. Dies schlägt auch bereits den Bogen zu einem auffälligen Spiel bei der sprachlichen Gestaltung des Werkes: Einerseits bedient sich der Autor extrem komplexer Formulierungen, durchbricht diese aber immer wieder mit plakativen Aussagen und Redewendungen. Ersteres macht das Werk in Verbindung mit den sehr ausdifferenzierten Gedankengängen mitunter selbst für einen ausgebildeten Juristen schwer verständlich, während Letzteres den Lesefluss auflockert und die teils fast schon blumige Sprache sehr gut lautmalerisch die Inhalte veranschaulicht. Hinzu kommen viele eingängige Zitate von Juristen, Philosophen aber auch Literaten wie Goethe, aber auch immer wieder vom Bundesverfassungsgericht, als der in diesen Fragen maßgeblichen rechtlichen Instanz.
Das gesamte Werk ist geprägt durch die politisch-gesellschaftliche Haltung des Autors, die je nach Themenkomplex zwischen sehr liberal (z. B. Vertragsrecht, staatliche Unterstützung) und stockkonservativ (insbesondere bei Ehe und Familie) variiert. Hinzu kommt in einzelnen Abschnitten eine extreme Fixierung auf bestimmte politische Gruppierungen. So ergießt er sich bei den Gefährdungen des staatlichen Gewaltmonopols (S. 313 ff.) fast schon in einer Hasstirade gegenüber der politischen Linken und der von diesen ausgehenden, in Politik und Medien permanent runtergespielten Gewalt, wobei er die vom rechten Rand des politischen Spektrums ausgehenden Gefahren als vollkommen überzogen darstellt. Dies erscheint angesichts brennender Flüchtlingsheime und gesellschaftlich-politischer Erscheinungen wie Pegida und der AfD, die in neusten Landtagswahlen u.a. mit der Forderung nach dem Waffeneinsatz an der Grenze gegen Flüchtlinge aus dem Stand zweitstärkste Kraft geworden ist, genau so einseitig wie die von ihm in der Gesellschaft bemängelte Ausblendung der linksextremistischen Gefährdungspotentiale. Hier zeigt er sich erschreckender Weise selbst ein Stück weit „auf dem rechten Auge blind“. Eine ähnliche Herausstellung der Bedrohung findet auch im Blick auf die insbesondere muslimisch-gläubigen Flüchtlinge statt.
Das Werk selbst richtet sich nicht nur an Juristen, sondern an jeden politisch interessierten Bürger und enthält daher neben den persönlichen Interpretationen des Autors auch teils lehrbuchhafte Ausführungen zu den Regelungen und Strukturen des Grundgesetzes, unseres Staates und der Europäischen Union. Es gliedert sich in sechs große Kapitel, denen eine Einleitung voran- und ein Fazit nachgestellt sind.
Die Einleitung beschäftigt sich primär mit der Gerechtigkeit als Zweck des Staates und des von ihm gesetzten Rechts sowie dem zugrunde liegenden Prinzip der Reziprozität sowie der persönlichen Verbindung zwischen dem Bürger und seiner Verfassung.
Im ersten, relativ kurz gehaltenen Kapitel stellt er den Staat als gesellschaftliche Erscheinungsform vor und erklärt insbesondere dessen geschichtliche Entwicklung aus den Bedürfnissen der Menschen als gesellige Wesen heraus. Hier darf natürlich auch die Drei-Elementen-Lehre von Georg Jellineknicht fehlen. Sodann geht er auf die Gestaltung Deutschlands als Bundesstaat und die sich hieraus ergebenden verfassungsrechtlichen Besonderheiten ein, bevor er aktuelle Entwicklungstendenzen des klassischen Nationalstaates in einer sich immer weiter globalisierenden Welt untersucht.
Im zweiten Kapitel widmet er sich den Themen Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit als den maßgeblichen Grundwerten unserer Verfassung. Schwerpunkte setzt er hier sowohl bei den klassischen als auch bei den durch moderne Entwicklungen hervorgerufenen Bedrohungen der Menschenwürde, insbesondere dem Problem der Abtreibung im Spannungsfeld der Rechte von Mutter und ungeborenem Kind, der mit Freiheit grundsätzlich einhergehenden Verantwortung des Menschen für sein Handeln und den aktuellen Veränderungstendenzen des Freiheitsverständnisses. Nach einer lehrbuchartigen Darstellung der allgemeinen Grundrechtslehren befasst er sich beim Thema Gleichheit stark mit der Wandlung von der Grundidee einer Chancengleichheit hin zu einem immer restriktiver verfolgten Ziel der Ergebnisgleichheit. Wie sehr den Autor dieses Thema persönlich erregt zeigt sich gut in seiner Wortwahl zwischen „Bildungskatastrophe“, „Gleichschaltung“ und „Gender Mainstreaming oder die Verballhornung des Menschen“. Seine Ausführungen sind in ihrer Radikalität erschreckend zutreffend und führen dem Leser bestürzende gesellschaftliche Entwicklungstendenzen schonungslos vor Augen.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Staatsform der Demokratie. Ausführlich stellt er hier zunächst die Grundzüge des Staatsorganisationsrechts vor. Zentrale Fragen in diesem Rahmen sind u.a., ob eine plebiszitäre Demokratie tatsächlich der demokratischen überlegen ist und welches die Ursprünge der in Deutschland immer weiter verbreiteten Politikverdrossenheit sind. Hier befasst er sich mit dem Problem der mangelnden Wahrnehmung und Akzeptanz abweichender Meinungen und Sorgen von Teilen der Bevölkerung und der damit einhergehenden Verengung des freien Diskurses, der aber für eine effektive Volkswillensbildung als Gegenpol zur Staatswillensbildung essenziell sei. Dabei geht er auch auf die immer geringere Distanz zwischen dem Staat einerseits und der Gesellschaft andererseits ein. Zum Abschluss des Kapitels analysiert er noch die Zukunft des demokratischen Staates in einer Staatengemeinschaft, namentlich der Europäischen Union, und zeigt die in dieser Staatengemeinschaft begangenen Fehler von der Aufnahme Griechenlands in die Währungsunion bis zum Verstoß Deutschlands und Frankreichs gegen den Stabilitätspakt deutlich auf.
Das vierte Kapitel widmet er dann auch ganz den „Wandlungen“, in seiner Deutung primär Gefährdungen, des demokratischen Systems. Schwerpunkte sind hier die nur noch theoretisch bestehende Unabhängigkeit der Abgeordneten gem. Art. 38 I 2 GG, an deren Stelle immer mehr eine faktische Abhängigkeit gegenüber ihrer Partei getreten ist. Weiter zeigt er die Erosion der parlamentarischen Kontrolle über die Regierung auf, die immer mehr Entscheidungen in „Elefantenrunden“ trifft und sie vom Parlament nur noch abnicken lässt, sowie das Problem der kurzsichtigen Politik, deren Ziel immer mehr die Befriedigung kurzfristiger Wählerinteressen zum eigenen Machterhalt ist, anstatt das langfristige Wohl des Landes und damit auch nachfolgender Generationen in den Blick zu nehmen. Hier wirbt der Autor eindringlich für Reformen des politischen Systems und stellt überzeugende Lösungsansätze vor. Danach geht er auf die demokratischen Probleme der EU ein, insbesondere die immer weiter ausufernde Missachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes sowie die nicht repräsentative Sitzverteilung in den einzelnen Organen. Er legt hier zum Verständnis der Materie auch die Organisationsstruktur und Grundsätze der EU dar. Danach kehrt er auf die nationale Ebene zurück, wo er die gefährliche Macht der drei großen Player „Parteien“, „Verbände“ und „Medien“ analysiert und an eindrücklichen Beispielen deren Einfluss auf die Politik darstellt.
Im fünften Kapitel geht er auf das Sozialstaatsprinzip ein. Er zeigt hier die verfassungsrechtlich gebotenen Bedingungen auf, weist aber auch eindringlich auf eine Beschränkung auf das zur Existenz absolut Notwendige hin und begründet überzeugend, warum nur eine freie Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung vom Grundgesetz abgedeckt sei. Auch hier warnt er wieder eindrücklich vor den bestehenden Tendenzen zur Umverteilung und den daraus erwachsenden Folgen für die strebsamen und innovativen Unternehmer aber auch die gesamte Gesellschaft.
Das sechste Kapitel befasst sich dann mit den spezifischen Merkmalen des Rechtsstaats. Hier schlägt der Autor auch wieder den Bogen zur bereits in der Einführung thematisierten Gerechtigkeit, die Zweck jeden Rechts sein muss. Im Rahmen der Bedrohung des staatlichen Gewaltmonopols geht er ausführlich auf die Gefahren durch linke, rechte und islamistische Gewalt für den deutschen Staat ein.
Im Fazit fasst er seine Befunde über den Zustand des demokratischen Staates in Deutschland zusammen und entwickelt Handlungsempfehlungen, um wieder auf den Weg zu mehr Eigenverantwortung der Bürger und damit der Grundbedingung für eine lebendige Demokratie zurückzukehren. Hier setzt er einen klar konservativen Akzent, der sich in seine gesamte Sichtweise stimmig einfügt.
Das Werk ist eine für jeden politisch interessierten Bürger sehr lesenswerte Bestandsaufnahme über den Zustand der Demokratie und Freiheit in Deutschland, insbesondere auch unter Einbeziehung der europäischen Integrationsbestrebungen. Der Autor arbeitet die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Bedrohungspotentiale klar heraus und legt den Finger schonungslos in die dabei aufklaffenden Wunden. Fast schon erschreckend ist, dass man viele seiner sehr radikal formulierten Befunde ebenso klar in der Realität wiederfindet, wenn man sich traut, einmal genau hinzusehen. Dabei erhebt das Werk nicht den Anspruch, eine neutrale oder objektive Bestandsaufnahme zu sein. Vielmehr ist es eine von dem konservativ-liberalen Denken des Autors geprägte Streitschrift, die den Leser zu eigenem kritischen Nachdenken anregen soll, das leider in der heutigen Zeit selbst in Akademikerkreisen immer weniger zu finden ist. Es regt auch zu einer Reflektion des eigenen Verhaltens an, insbesondere mit Blick auf die für die eigene Wahlentscheidung maßgeblichen Faktoren und die Position zu bestimmten politischen Entwicklungen. Damit befördert es einen gesellschaftlichen Diskurs, der dringend geboten ist, weil eine Demokratie nun einmal von Gegensätzen lebt und sich nur im Streit über diese Positionen fortentwickeln kann.