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Rezension Öffentliches Recht: Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung

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Vesting / Korioth / Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, 1. Auflage, Mohr Siebeck 2014

Von Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard), Frankfurt am Main



Das Internet befördert die Individualisierung der Gesellschaft. In der öffentlichen Wahrnehmung sinkt die Bedeutung traditioneller Kollektive wie Vereine, Stadtteilbeiräte und Gewerkschaften, in denen Meinungsaggregation und -artikulation bis dato stattfand. Doch neue intermediäre  Gewalten sind im Entstehen: Vielschichtig wie vielgestaltig (von YouTube bis zu Grätzl-Groups rund um veganes Essen) zeigen sie, dass die Rede von der Atomisierung der Gesellschaft nicht unwidersprochen bleiben darf.

In dieser Diskussion verschafft ein hervorragender Sammelband, der von drei wichtigen deutschen Staatsrechts- und Rechtsphilosophielehrern sorgfältig editiert wurde, einen wichtigen Überblick über den Debattenstand. Während grundrechtlich geschützte Rechtspositionen zur Zeit überwiegend mit individuellen Freiheit assoziiert werden, will der Sammelband die tradierte Lesart auf die Probe stellen und die Folgen nachzeichnen, die die „systematische“ Unterschätzung des „transsubjektiven gesellschaftlichen Gehalt[s]“ der Grundrechte mit sich gezogen hat (Vorwort). Den Herausgebern geht es also, wie der Untertitel besagt, um die „Wiedergewinnung des Gesellschaftlichen in der Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik“. Die Beiträge gehen zurück auf ein Symposion aus dem Jahr 2013, sind aber von unveränderter (wenn nicht weiter gesteigerter) Relevanz.

Die gesammelten Beiträge sind in vier Kapitel gegliedert. Nach einer Einleitung der Herausgeber, in der sie die Grenzen der „personalen Wende des Individualismus“ in der Dogmatik und Theorie der Grundrechte aufzeigen (3 ff), skizzieren in den „Grundlagen“ drei Beiträge die normativen Wege zur Grundrechts(re)sozialisierung. So zeigt Thomas Vesting zum Beispiel auf, inwieweit die Nachbarschaft als nicht-staatliche Institution die Individualisierung abfedert und nachbarschaftliche Vernetzungen selbst Subjekte der Freiheit sein können (75 ff). Karl-Heinz Ladeur untersucht unter anderem die Rolle einer Gesellschaft der Netzwerke als Gegenprogramm zur individuumszentrierten liberalen Gesellschaft. Ino Augsbergführt eindringlich vor, dass selbst in der Autonomie und im würdebasierten Autonomieschutz noch eine soziale Dimension innewohnt: Der Mehrwert des Grundrechtsschutzes liege demnach „gerade in seiner individuellen Dimension, die über den Bereich des individualrechtlich Fassbaren hinausschießt“ (55).

Der zweite Abschnitt zur Dogmatik öffnet mit einer Analyse von Benjamin Rusteberg, der zeigt, dass Grundrechte das zentrale Fundament der „objektiven Wertordnung“ des Staates (und eben nicht nur subjektive Abwehrrechte) darstellen. Dennoch, so Rusteberg, dürfte Grundreche nicht überladen werden: „Nur weil die Grundrechte als der sprichwörtliche Hammer bereit stheen, sollte man nicht anfangen alle Probleme als Nägel anzusehen“ (107). Matthias Ruffert analysiert prägnant, dass grundrechtliche Schutzpflichten kein Einfallstor für ein etatistisches Grundrechtsverständnis darstellen müssen. Den dogmatischen Teil des Buchs schließt ein Beitrag von Dan Wielsch, der die Grundrechte auf ihre Rolle als Rechtfertigungsgebote im Privatrecht befragt. Er kommt zu dem Schluss das das Privatrecht auch die „eigenständige Normativität […] soziale[r] Praktiken rekonstruieren“ müsse: Grundrechte zwängen das Recht zu „sozialer Responsivität“ und machten es zugänglich für Eigennormativitätsstrukturen sozialer Rationalitäten (157).

Steffen Augsberg eröffnet Teil III des Bandes (Handlungsfelder) mit einem Beitrag über das kollektive Moment der Wirtschaftsgrundrechte. Friedhelm Hase untersucht die Rolle der sozialen Sicherheit, Helge Rossen-Stadtfeldjene der Medienfreiheit. Stefan Koriothbetrachtet die soziale Bedeutung der Religionsfreiheit mit ihren individuellen, kollektiven, objektiven und institutionellen Dimensionen. Fabian Steinhauer arbeitet das Grundrecht der Kunstfreiheit in seiner subjektiven und objektiven Bedeutung auf.

Der Band schließt mit zwei Beiträgen zu den internationalen Dimensionen des Grundrechtsschutzes. Jochen von Bernstorff untersucht den menschenrechtlichen Würdediskus und verankert die Menschenwürde als „ethisches Postulat“, das entstehe im wechselseitigen Erkennen der „irreduziblen Einzigkeit und Verletzlichkeit des Anderen“ (291). Mit diesem alteritätszentrierte Menschenwürdeverständnis will der Autor gängige Autonomiekonzeptionen der Menschenrechte erweitern. Mit Lars Viellechners Beitrag über die transnationale Dimension der Grundrechte schließt der Band: Er zeigt auf, inwieweit (transnationale) Grundrechte die Rechtssetzungsprozesse jenseits von Staaten und internationalen Organisationen begründen und begrenzen können (302 ff). Seine Analyse zur Rolle der Menschenrechte im Prozess der Domainvergabe von ICANN ist von wohltuender Tiefenschärfe und exemplarisch für die Dichte der Argumente, die der Band für die These einer Resozialisierung der Grundrechtsdogmatik anführt.

Wir befinden uns in einer Zeit des „Strukturwandels des Öffentlichen“ (Andreas Fischer-Lescano). Dieser Wandel muss von der kritischen Rechtswissenschaft begleitet und bewertet werden. Der vorliegende Band trägt maßgeblich dazu bei, der Öffentlichkeit die Rolle der Grundrechte für die Gesellschaft und in der Gesellschaft vor Augen zu führen.



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