Hartmann, Russland. Einführung in das politische System und Vergleich mit den postsowjetischen Staaten, 1. Auflage, Springer 2013
Dr. David Sirakov, Studiendirektor der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz und Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Kaiserslautern
Wie geht man mit der Russischen Föderation in Zukunft um? Die Krise um die Ukraine stellt die westliche Staatengemeinschaft vor die schwierige Aufgabe, eine konsequente, wirkungsvolle und nicht zuletzt auch in sich konsistente Position gegenüber Russland zu finden.
Ein erster und unumgänglicher Schritt ist die intensive Beschäftigung mit dem politischen System Russlands. In seinem Buch „Russland. Einführung in das politische System und Vergleich mit den postsowjetischen Staaten“ unternimmt Jürgen Hartmann, Professor Emeritus der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr und ausgewiesener Experte der Vergleichenden Politikwissenschaft, eben dies. Dabei bietet er neben einer historischen, politisch kulturellen und institutionellen Einführung zu Russland auch den Blick auf die Nachbarstaaten Ukraine und Weißrussland sowie die Staaten des Kaukasus und Zentralasiens. Hierbei spielt Russland allerdings eindeutig die Hauptrolle, während der Blick in den übrigen postsowjetischen Raum der besseren Einschätzung dient.
Dies macht der Autor nicht zuletzt deshalb, um der „grellen Leuchtreklame einer empirischen Demokratieforschung“ (S. 10) und mithin dem Fehler zu entgehen, die 20jährige und damit vergleichsweise kurzen Erfahrung der Demokratie- und Rechtsstaatsentwicklung mit denen etablierter, jahrzehntewährender westlicher Demokratien zu vergleichen.
In einem ersten Schritt gibt Hartmann dafür einen weitreichenden Einblick in die historische Entwicklung von den Ursprüngen in Byzanz über das Moskauer Rus und die Zeit der Sowjetunion bis hin zum Zusammenbruch 1991 und die Entwicklung unter Boris Jelzin und Vladimir Putin. Dabei ist die vom Autor verwendete Literatur zum Mittelalter nicht immer aktuell und reicht mitunter in die 1960er Jahre zurück. Nichtsdestotrotz gibt dieses Kapitel dem Leser eine interessante und wichtige Grundlage für die Betrachtung des heutigen Russlands.
Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die politische Kultur in Russland sind Gegenstand des darauffolgenden Kapitels. Dabei verweist Hartmann entlang der Arbeiten Gabriel Almonds und Sidney Verbas zur Civic Culture auf die Passivität, ja das Misstrauen der Bürger gegenüber dem Staat und seinem Handeln. Dies ist ein erster Hinweis auf die im Buch später deutlich zutage tretende Diskrepanz einer auf dem Papier durchaus demokratisch daherkommenden russischen Verfassung und der Verfassungsrealität. Damit einhergehend bespricht Hartmann das in den Köpfen vieler Russen bis heute verklärte Bild der Sowjetunion, in der jedwede Sicherheit durch die starke Führung garantiert worden sei. Aber auch das gestörte Verhältnis zum Begriff Demokratie wird behandelt, welches aus den traumatischen Erfahrungen der 1990er Jahren herrührt. Hier beschränkt sich der Autor allerdings darauf hinzuweisen, dass Russen mit der Demokratie westlicher Prägung das eher autokratische Verhalten der Führung um Boris Jelzin verbinden. Außen vor bleibt der vom Westen konzipierte und unterstützte wirtschaftliche Umbruch der 1990er Jahre (Schocktherapie), in dessen Zuge weite Teile der Bevölkerung verarmten und nur Wenige auf fragwürdige Weise reich wurden (Oligarchen). Diese Erfahrung prägt bis heute das russische Bild von westlicher Demokratie, weshalb in Umfragen zumeist eine Demokratie russischer Prägung bevorzugt wird.
In den Kapiteln vier bis acht steht das institutionelle Gefüge der Russischen Föderation sowie die Wirtschafts- und Außenpolitik im Mittelpunkt. Hierbei zeigt sich schnell die zentrale Stellung des Präsidenten, die in der verfassungsrechtlichen Konzeption dem gemischten oder – nach Maurice Duverger – semipräsidentiellen Regierungssystems Frankreichs ähnelt. Durch punktuelle Veränderungen in der Verfassung und ihrer Interpretation (Rezentralisierung der Macht unter Vladimir Putin) entsteht allerdings vielmehr ein Superpräsidentialismus. Nicht zuletzt die de facto fehlenden Möglichkeit einer Cohabitation, der politischen Gegnerschaft von Präsident und parlamentarischer Mehrheit und mithin Premierminister, ist hierfür verantwortlich. Mit Blick auf die Wirtschaftspolitik Russlands thematisiert Hartmann die (einseitige) Konzentration Moskaus auf die Rohstoffvorkommen, die eben gerade in Richtung des postsowjetischen Raumes als politisches Mittel wiederholt Anwendung findet. Die Außenpolitik wird in diesem Band lediglich in groben Zügen angesprochen, vielleicht auch, da mit „Russlands Außenpolitik“ Christian Wipperfürth 2011 eine solche Analyse ebenfalls bei Springer VS vorgelegt hat.
Der zweite Teil des Buches behandelt die postsowjetischen Nachbarn Russlands. Dabei geht es Hartmann darum, Russland mit Staaten zu vergleichen, die eine ähnliche – wenn nicht gleiche – Ausgangslage vorweisen. Die Darstellungen der Ukraine, Weißrusslands, der Kaukasusstaaten (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) sowie Zentralasiens (Turkmenistan, Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan) werden unterschiedlich vorgenommen. Dabei sind die Ausführungen zur Ukraine und Weißrussland deutlich umfangreicher, was vor dem Hintergrund der aktuellen Krise um die Ukraine von besonderer Relevanz ist. Die Betrachtung zeigt die Zerrissenheit nicht nur in der politischen Elite, sondern auch die Instrumentalisierung regionaler Identitäten (Sprache und Geschichtsbilder) im politischen Kampf. Ein Umstand, der in der Auseinandersetzung zwischen der Kiewer Regierung und den pro-russischen Separatisten im Osten des Landes offenkundig wird.
Der Vergleich mit den postsowjetischen Staaten mündet abschließend in ein „Plädoyer für ein historisch sensibles Urteil“ gegenüber Russland. Dabei warnt Hartmann vor einer allzu schnellen und zumeist westlich zentrierten Beurteilung des politischen Systems Russlands. Vielmehr tritt er für eine Analyse ohne Bias, ohne – wohlmöglich ideologisch – vorgefertigte Erwartungshaltung, ein, die sich Russland wie Staaten außerhalb Europas (China oder Japan) nähert. Hartmanns Fazit ist denn auch deutlich optimistischer als dies in anderen Untersuchungen zu finden ist. In Russland fassten „allmählich liberale und demokratische Werte und Institutionen Fuß“ (S. 262), so der Autor.
Dass die Entwicklung in der Ukraine und das außenpolitische Vorgehen Russlands in der (ver)öffentlich(t)en Meinung momentan ein anderes Bild ergibt, konnte Jürgen Hartmann 2013 nicht absehen. Es wäre überdies sicherlich verfehlt, dass Außenverhalten Moskaus in Form der Einflusssphärenpolitik gegenüber dem postsowjetischen Raum eins zu eins mit der innenpolitischen Entwicklung gleichzusetzen. Zumal auch Demokratien in der Vergangenheit gezeigt haben, dass sie sich in den internationalen Beziehungen nicht nur friedlich und stets werteorientiert bewegen.
Insgesamt ist das Buch von Jürgen Hartmann eine lohnenswerte Lektüre zu Russland und seinen postsowjetischen Nachbarn. Dabei hebt es sich wohltuend von den zumeist westlich geprägten Einordnungen ab und bietet einen politikwissenschaftlich ausgeglichenen Blick auf eines der spannendsten politischen Systeme der heutigen Zeit.