Jansen / Oestmann (Hrsg.), Rechtsgeschichte Heute. Religion und Politik in der Geschichte des Rechts - Schlaglichter einer Ringvorlesung, 1. Auflage, Mohr Siebeck, 2014
Von Dr. Matthias C. Kettemann, LL.M. (Harvard), Frankfurt am Main
Das Verhältnis von Politik, Recht als sozial stabilisierter Politik, und Religion ist ein historisch gespanntes, das noch in die Tiefenschichten und Verästelungen heutiger Gesellschaften Wirkung zeitigt. Ist Heilige Stuhl (oder die katholische Kirche) verantwortlich für Verbrechen von Priestern an Kindern? Dürfen Staaten Kopftücher verbieten? Welche Grenzen sind Sekten zu setzen? Diese Frage sind in ihrer Details aktuell, aber der ihnen zugrunde liegende Prozess des Ringens um die Vorherrschaft zwischen Religion und Politik (und Recht) in den Köpfen und Kirchen (und auf den Straßen) wird in Jahrhunderten, nicht in Jahren gemessen.
Das macht Rechtgeschichte Heute – ein anregend widersprüchlicher Titel – so aktuell. Nils Jansen und Peter Oestmann, Professoren vom Institut für Rechtsgeschichte der Universität Münster, haben zehn Beiträge namhafter Forscherinnen und Forscher versammelt, die in einer Gesamtschau eine Phänomenologie dessen erstellen, was man, Stephen Jay Gould variierend, overlapping magisteria nennen könnte. Denn Religion und Politik waren in Vormoderne wie Moderne, das zeigen uns die Beiträge deutlich, sehr eng verknüpft, ja: beeinflussten die gegenseitigen Diskurse.
Die zehn Beiträge – epochenübergreifende ausgewählte „Tiefbohrungen“, wie die Herausgeber bildkräftig schreiben (VIII) – gehen zurück auf eine Ringvorlesung aus 2012, die im Rahmen des Münsteraner Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ organisiert wurde.
Wohin wird nun gebohrt? Ulrike Babusiaux dekonstruiert die Juristentaktik in der Severerzeit und zeigt auf, dass deren Lob des Kaisers oft auch auf diesen zurückstrahlt und gleichsam qua Kommentarfunktion Pfadabhängigkeiten konstruiert werden. Die Juristen ließen aber auch das Konzept der aequitas nicht außer Acht, und verließen sich keineswegs ausschließlich auf kaiserverehrende Argumentationslinien. Mehr als nur Linien – ganze Kontinente – trennten die Juristen in Byzanz und Bologna, wie Thomas Rüfner zeigt. Und doch: die Ergebnisse der Arbeit mit denselben Rechtsquellen führten teils zu unterschiedlichen Ergebnissen; diese waren aber, so Rüfner, weniger methodologisch differenzierenden Ansätzen, sondern pragmatischen Auslegungen geschuldet. Byzanz war nicht Bologna.
Andreas Thier tritt einen Schritt zurück und vermisst die geschichtliche Entwicklung der der mittelalterlichen Bischofsbestellung, wobei die verstärkte Normativität zur Sicherung der „Richtigkeitsgewähr“ zentrales Motiv ist. Bald war auch die Politik – die Herrscher – daran interessiert, den „richtigen“ Bischof auszuwählen. Die Spannung zwischen Legitimation durch die Gläubigen und Wahl oder Bestätigung durch die Macht sollte im Investiturstreit einen vorläufigen Höhepunkt, nicht aber ihren Endpunkt nehmen.
Dann springt das Buch ins Schottland des 16. Jahrhunderts. A. Mark Godfrey untersucht ausgehend von der Gründung des College of Justice (1532), wie sich die Entwicklung und prozessuale Legitimierung von (Höchst)Gerichtsbarkeit und Konstitutionalisierungsprozesse gegenseitig bedingten und wechselseitig befruchteten. Bei Godfrey sieht man die normative Kraft der juristischen Eigenlogik, die sich in Distanz zu Politik und Recht entwickelt, verfasst und sozial verfestigt.
Mit Tilman Repgen wird das nicht nur im völkerrechtlichen Diskurs enorm wichtige Problem der clausula rebus sic stantibus historisch bewusst – eine Zeitspanne von 2000 Jahren überblickt Repgen mühelos – situiert. Nicht Normengeschichte, erklären schon die Herausgeber eingangs, sondern „Problemgeschichte“ wird höchst effektvoll betrieben. Nachträglich veränderte Umstände in Schuldverhältnissen, wie Repgen zeigt, haben Cicero ebenso umtrieben wie die spanischen Spätscholastiker. Diesen widmet sich auch Massimo Meccarelli, der zur Rechtsmodernisierung durch die Theologen der Spätscholastik arbeitet. Mehr Recht (weniger Politik), klarere Gerichts-und Herrschaftsgewalt des Königs, ein politisch sensibilisierter Blick – hier zeigt sich, dass theologisch-juristische Grenzgänger im Gefolge des Aquinat wichtige Wegmarken setzen können, auch wenn diese von vernunftrechtlichen Überlegungen der kommenden Jahrzehnte überlagert und selbst im rechtsgeschichtlichen Bewusstsein teils verdrängt wurden.
Im einzigen dezidiert strafrechtshistorisch orientierten Beitrag zeigt Heikki Pihlajamäki sehr nachdrücklich auf, dass protestantische Strafethik nicht areligiös konzipiert werden kann. Dieser Prozess habe erst mit rationalistisch-naturrechtlichen Strömungen im 18. Jahrhundert stattgefunden. Ein „Strafrecht ohne Religion“ in der frühen Neuzeit habe es selbst in protestantische Länder nicht gegeben. Besonders das Unrechtsdenken sei nachhaltig beeinflusst wurden durch den Dekalog – und, der vom protestantischen Fundamentalismus des amerikanischen Südens irritierte Leser mag dies ergänzen, diese Entwicklung hält an.
Mitherausgeber Nils Jansen untersucht in Folge das frühneuzeitliche Testamentsrecht und vermisst dabei ein Feld, das größer ist als jenes „zwischen kirchlicher Seelsorge und herrschaftlicher Ordnungspolitik“, wie sein Titel andeutet. Bei ihm findet man auch interessante Überlegungen zur Rechtsquellenlehre – etwas zur diskursiven Flexibilisierung von Berufungen auf den Corpus Iuris Civils – von usus und nicht von Geltung wurde gesprochen. Was, so Jansen, angesichts der Aufweichung der Formstrenge seit Justinian (und davor) auch nötig war.
Wie große Fragen zwischen Religion und Politik im Kleinen verhandelt und dann politisiert werden, zeigt der zweiten Mitherausgeber Peter Oestmann am Beispiel eines Falls aus dem niedersächsischen Bauernrecht, der als „dörfliche Posse um die Eigenbedarfskündigung eines Mietvertrages“ beginnt und– fasziniert verfolgt der Leser dem Fall und Oestmannsplastischen wie pointierten Schilderungen – vor dem Reichstag endet. Besonders interessant sind hier die von protestantischen und katholischen Rechtsgelehrten verwendeten Argumentationsmuster. Wie Oestmann zeigt, beriefen sich erstere eher auf Reichsgesetze, letzter eher auf römisches und kanonisches Recht – ein schwer aufzulösender Widerspruch.
Mit Hans-Peter Haferkamps Beitrag schließt das Buch. Er untersucht, inwieweit Erweckungserlebnisse und private Frömmigkeit auf das Rechtsverständnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkmächtig wurden. Und das wurden sie: Noch Savigny stellvertretend für die historische Rechtsschule Gott als den tieferen Grund des gesamten Rechts; dies haben späteren Forschungen eher verschüttet als beleuchtet, in dem sie Religion als Privatsache abtaten. Der Mystizismus setzte natürlich voraus, das Rationalität nur auf der Meta-Ebene Einzug halten durfte. Haferkampf dazu: „Rationalität diente daher dazu, einen entstanden Gegenstand zu verstehen, der sich in seiner Entstehung selbst rationaler Durchdringung entzog“ (192). Mit dem bürgerlichen Freiheitsgedanken, der ab 1848 dann Deutschland zu durchdringen begann, und einem juristischen Generationswechsel verflüchtigte sich indes dann auch der mystische Geist.
Der Band kartographiert einige der spannendsten Konfliktfelder von Religion und Politik. Dabei zeigt er en passant auch auf, dass wechselseitige Befruchtungen durchaus möglich sind, ohne gleich mystisch zu werden. Schon lange war ein rechtsgeschichtlicher Band so zeitgemäß. Es überrascht in diesem Licht etwas, dass die Herausgeber eingangs eher defensiv erklären, warum sie einen ausschließlich rechtsgeschichtlichen(also nicht interdisziplinären) Zugang gewählt haben. Dies wäre nicht nötig gewesen. Die „Binnenpluralität“ der Rechtsgeschichte (VIII), die kenntnisreiche Auswahl und die in Tiefe wie Thematik überzeugenden Beiträge graben unreflektierten Interdisziplinaritätsansprüchen das Wasser ab. Dies kann – das zeigt das Buch – exzellente rechtsgeschichtliche Forschung leisten. So soll Rechtsgeschichte und rechtsgeschichtliche Forschung heutetatsächlich aussehen.