Helmholz, Kanonisches Recht und Europäische Rechtskultur, 1. Auflage, Mohr Siebeck 2013
Von ORR Dr. Ulrich Pflaum, München
Unter dem Titel „Kanonisches Recht und Europäische Rechtskultur“ erscheint bei Mohr Siebeck die deutsche Übersetzung von Richard W. Helmholz‘ im Original erstmals 1996 aufgelegter Monographie „The Spirit of Classical Canon Law“. Die Übersetzung erfolgte durch Jörg Müller und das Werk ist mit einem Vorwort von Peter Landau versehen.
Das Werk umfasst im Hauptteil 435 Seiten. Nach einem Einleitungskapitel mit zusammenfassender Darstellung der Rechtsquellen werden in den dreizehn folgenden Kapiteln stellvertretend für die Teilbereiche des kanonischen Rechts einzelne Themen erörtert, die insgesamt einen verallgemeinerungsfähigen Gesamteindruck vermitteln, und die Gemeinsamkeiten in einem abschließenden Kapitel nochmals zusammengefasst. Dargestellt werden das Bischofswahlrecht (stellvertretend für „Herrschaft in der Kirche“), die Ordination der Unfreien („Die Qualifikationen des Klerus“), die kanonische restitutio in integrum („Rechtsbehelfe und kanonisches Verfahren“), der Schutz der personae miserabiles und Rechtsprechung ex defectu iustitiae („Prinzipien kirchlicher Rechtsprechung“), der Eid im kanonischen Recht („Religiöse Prinzipien und Probleme der Praxis“), das kanonische Recht der Verjährung („Wirtschaftliche Rechte und Eigentumsrechte“), das kanonische Recht der Taufe („Die christlichen Sakramente“), die Wahlfreiheit im kanonischen Recht („Ordensgelübde und Eheverträge“), das Delikt der Gotteslästerung („Kirchliches Strafrecht“), die doppelte Strafverfolgung („Strafverfahrensrecht“), das Recht der päpstlichen Privilegien („Das Papsttum im kanonischen Recht“), die Anrufung des weltlichen Schwertes („Kooperation und Zwang vor kirchlichen und weltlichen Gerichten“) und die Exkommunikation („Kanonische Sanktionen“).
Auch wenn der Verfasser natürlich eigene Wertungen vornimmt, erhebt er ausdrücklich „keinen Anspruch auf Originalität“ im Sinne eines gänzlich neuen Zugangs zum Thema (S. XV, XVI). Stattdessen konzentriert er sich darauf, entsprechend dem englischen Originaltitel, gerade dem nicht einschlägig vorgebildeten Leser den Einstieg in das kanonische Recht des Mittelalters und seine Fortsetzung teils bis in das 19. (S. 390) und sogar 20. Jahrhundert (S. 95) zu bieten, und Verständnis für dessen Grundgedanken zu schaffen. Für den nicht einschlägig vorgebildeten Leser ist dabei insbesondere das vorgeschaltete Kapitel über die Rechtsquellen sehr hilfreich.
Die für viele US-amerikanische Wissenschaftler kennzeichnende persönliche, betont lebendige Sprache des Verfassers ist in der Übersetzung weitgehend erhalten (z.B. S. 15, 24, 39). Sie lässt nach dem Eindruck des Rezensentendas Werk einerseits „leicht“ und gefällig erscheinen, andererseits gelegentlich die wünschenswerte Klarheit vermissen. Wenn der Verfasser an einer Stelle so weit geht, den Kanonisten Anerkennung dafür zu zollen, unbewusst zu einer Zurückdrängung des kanonischen Rechts beigetragen zu haben (S. 158), wird nicht ganz klar, ob darin nur ein (übertriebenes) Bemühen um einen versöhnlichen Duktus oder gezielter Spott liegt. Leider fielen speziell in der vorliegenden Übersetzung mehrfach redaktionelle Mängel auf.
Inhaltlich ist das Werk im Original am englischsprachigen Leser bzw. am englischen und (anglo-) amerikanischen Recht ausgerichtet (S. 2, 3). Die Verwurzelung des Verfassers selbst im heutigen angloamerikanischen Recht und seiner Methodik wird ebenfalls deutlich, wenn er den Wert der „kreativen“ Rechtsfortbildung zur erweiterten Zulassung von Rechtsbehelfen herausstellt (S. 102), „Abschreckungseffekte“ (chilling effects) des Blasphemietatbestands beklagt (S. 310) oder hinsichtlich des Doppelbestrafungsverbots mehrfach und teils sehr detailliert auf die US-amerikanische Rechtslage und Rechtsprechung Bezug nimmt (u.a. S. 315, 339). Obgleich der Titel der Übersetzung ein Gleichgewicht zwischen den Ausführungen zum kanonischen Recht und seinen Bezügen zur europäischen Rechtskultur suggeriert, liegt der deutliche Schwerpunkt auf der Darstellung des kanonischen Rechts. Die Ausstrahlungswirkung der jeweiligen kanonischen Normen auf staatliches Recht, zumal Kontinentaleuropas, wird zumeist nur recht kurz erwähnt (z.B. S. 67: Bischofswahl und Kaiserwahl, S. 312: Art. 103 Abs. 2 GG). Namentlich das Kapitel über das kanonische Recht der Verjährung ist für einen zivilrechtlich in den Begrifflichkeit des BGB denkenden Leser durch eine zunächst verwirrende Vermengung von Verjährung und Ersitzung geprägt. Für die angloamerikanisch geprägte Zielgruppe des Originals mag sich dies anders darstellen.
Helmholz‘ zusammenfassende These, dass das kanonische Recht des Mittelalters als Instrument der cluniazensischen Reform entwickelt worden sei (S. 430) klingt über das ganze Werk an (z.B. auch S. 39, 69) und ist überzeugend herausgearbeitet. Ähnliches gilt für das Seelenheil als prägenden Bezugspunkt (S. 431). Das darüber hinaus hervorgehobene Bemühen um materielle Gerechtigkeit und Instrumente zu ihrer Durchsetzung (S. 431) ist zweifellos richtig, dürfte allerdings keine Eigenheit des kanonischen Rechts, sondern Kennzeichen jeder Rechtsordnung sein, auch wenn die Gerechtigkeitsvorstellungen sich unterscheiden.
Insgesamt liefert Helmholz eine ebenso fundierte wie verständliche und nachvollziehbare Einführung in das kanonische Recht des Mittelalters und seine Nachwirkungen, die den „Spirit of classical canon law“ überzeugend darstellt. Müller gelingt eine treffende, gut lesbare Übertragung. Insofern ist nicht ganz nachvollziehbar, warum der Titel der deutschen Ausgabe geändert wurde. Es steht zu hoffen, dass der Titel keine falschen Erwartungen weckt, durch die die Qualitäten des Werkes verdeckt werden. Als Einstieg in das mittelalterliche kanonische Recht, sei es im Rahmen der juristischen Ausbildung, sei es zur Abrundung der juristischen Allgemeinbildung ist „Kanonisches Recht und Europäische Rechtskultur“ definitiv lesenswert.