Kraatz, Arztstrafrecht, 1. Auflage, Kohlhammer 2013
Von RAin Anika Rühl, Homburg
Nach dem Autor, Dr. Erik Kraatz, beläuft sich die Zahl neuer strafrechtlicher Ermittlungsverfahren im arztstrafrechtlichen Bereich nach Schätzungen auf der Grundlage exemplarischer empirischer Untersuchungen auf ca. jährlich 1500 bis 3500. Natürlich handelt es sich bei diesen Ermittlungsverfahren nicht ausschließlich um solche, in denen Ärzten Delikte aus dem „klassischen Bereich“ des Arztstrafrechts, also der Körperverletzungs- bzw. Tötungsdelikte als Folge eines ärztlichen Eingriffs, vorgeworfen werden. Vielmehr umfasst das Arztstrafrecht, das der Autor aus diesem Grund auch als „Arztstrafrecht im weiteren Sinne“ bezeichnet, zunehmend Straftaten aus dem wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich. Darüber hinaus führt natürlich auch der medizinische Fortschritt zu mittlerweile vielfältigen arztrechtlichen gesetzlichen Regelungen. Der Autor stellt tatsächlich - was anhand des relativ schlanken Umfangs des Buches etwas überrascht - den gesamten Komplex des „Arztstrafrechts im weiteren Sinne“ sehr anschaulich und umfassend dar.
Die Gliederung ist übersichtlich vorgenommen, das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beinhaltet ganz klassisch die „Einführung“ und befasst sich mit der fast schon obligatorischen „historischen Entwicklung“ des Arztstrafrechts und den heranzuziehenden Rechtsquellen. In der Folge widmet sich der Autor recht ausführlich den Rechtsverhältnissen eines Arztes, beleuchtet also die zivilrechtlichen Grundlagen des Vertragsverhältnisses zwischen Arzt und Patient, die Rechtsbeziehungen zur kassenärztlichen Vereinigung und zu den Krankenkassen.
Nachdem dieser erste Teil dem Leser also die vertragsrechtlichen Grundlagen der Rechtsverhältnisse, die ein Arzt im Rahmen seiner Tätigkeit eingeht, schildert, und auf die, wie es der Autor nennt „Ausgangspunkte aller medizinrechtlichen Fragestellungen“ eingeht, folgt Teil 2, der mit „Die einzelnen Bereiche des Arztstrafrechts“ betitelt klar den Kernbereich des Buches darstellt. Beginnend mit dem „ärztlichen Heileingriff als vorsätzlicher Körperverletzung“ weist der Autor zunächst noch einmal darauf hin, dass trotz mehrfacher Reformbestrebungen bis heute keine Sondertatbestände in diesem Bereich geschaffen wurden, die Strafbarkeit ärztlicher Eingriffe sich daher weiterhin nach den allgemeinen Strafbarkeitsbestimmungen richten.
Beginnend mit der Strafbarkeit gemäß § 223 Abs. 1 StGB, handelt der Autor die möglichen Strafbarkeiten aus vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzung ab, wobei jeweils dem Leser zunächst ein Aufbauschema des jeweiligen Tatbestandes an die Hand gegeben wird und nachfolgend sich entsprechend Ausführungen zur Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld finden. Hier finden sich natürlich auch die obligatorischen Definitionen beispielsweise der körperlichen Misshandlung und Gesundheitsschädigung, die wohl bekannt sein dürften. Sehr gelungen finde ich allerdings, dass sich der Autor einer Vielzahl von Fällen aus der Rechtsprechung bedient, die zunächst kurz dargestellt werden und deren Lösung sich dann unmittelbar anschließend findet.
Die allgemeinen Ausführungen zu Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld der jeweiligen Tatbestände sowie die entsprechenden Schemata richten sich ganz eindeutig an Studierende, können vom Praktiker wohl größtenteils also übersprungen werden, die Vielzahl an Rechtsprechung allerdings, sowie die Ausführungen zu gesetzlichen Neuerungen, beispielsweise der Einführung des § 226a StGB bzw. die Darstellung neuester Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, heben das Buch doch deutlich von einem reinen Studienbuch ab und machen es auch für den Praktiker durchweg interessant und lesenswert.
Einen weiteren kleinen Schwerpunkt setzt das Buch auf die ärztliche Sterbehilfe, eine Thematik, die, wohl kaum wie eine andere, Diskussionsstoff bieten dürfte. Gerade deshalb finde ich es etwas schade, dass der Autor seinem Stil, zunächst Prüfungsschemata darzustellen und diese dann mit entsprechender Rechtsprechung und Kontrollfällen zu untermauern, treu bleibt und es etwas verabsäumt, die Brisanz dieses Themas, beispielsweise auch im Vergleich zur Rechtslage in anderen europäischen Ländern, aufzugreifen. Recht ausführlich wird allerdings die Neuausrichtung der Sterbehilfesystematik nach der Grundsatzentscheidung des BGH im Fall Putz dargestellt, nach der sich die bis dato bestehende Unterscheidung zwischen aktivem Tun und bloßem Unterlassung überholt hat.
Ein weiteres Kapitel mit dauerhafter Aktualität schließt sich an, die Organe- und Gewebetransplantation. Hier finden sich ebenfalls recht ausführliche Erläuterungen zu den einschlägigen Vorschriften des Transplantationsgesetzes unter besonderer Beachtung der Problematik der so genannten Crossover-Spende und der Strafbarkeit gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 2 TPG. So verständlich dem Autor die Darstellung der geltenden Gesetzeslage hier auch gelingt, diesem Kapitel hätte etwas mehr Beachtung des ethisch-moralischen Konfliktpotentials, das dieses Thema birgt, nicht geschadet.
Sehr interessant fand ich den darauffolgenden § 8, überschrieben mit „Schutz des ungeborenen Lebens“, in dem sich der Autor unter anderem mit der Schutzweite des Embrionenschutzgesetzes, der Präimplantationsdiagnostik und dem Stammzellgesetz befasst.
Ab Seite 159 wird der Schwerpunkt auf den wirtschaftsstrafrechtlichen Einschlag gelegt, beginnend mit dem Abrechnungsbetrug, als, wie es der Autor bezeichnet, „Kerntatbestand des Wirtschaftsstrafrechts der Medizin“, der besonders wegen der „hohen Schadenssumme für das klamme Gesundheitssystem“ vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten ist. Den Umstand, dass diese Materie nur mit Grundverständnis über das ärztliche Vergütungssystem zu verstehen ist, berücksichtigt der Autor sehr gelungen dadurch, dass er mit dessen Darstellung beginnt, unterscheidend zwischen privatärztlicher Abrechnung, der Abrechnung von Krankenhäusern sowie vertragszahnärztlicher Abrechnung.
Nachdem also das notwendige Grundlagenwissen vermittelt ist, folgt das obligatorische Aufbauschema des § 263 StGB. Positiv zu bewerten sind die Erläuterungen des objektiven und subjektiven Tatbestandes, in deren Rahmen sich das Buch mit einer Fülle von Fallkonstellationen des Abrechnungsbetruges befasst, stets unter Benennung und Darstellung der einschlägigen gesetzlichen Normen, wie der GOÄ bzw. des SGB V, und mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsprechung und Verweisen auf weitergehende Literatur, um die an sich bereits sehr ausführlich dargestellte Materie bei Bedarf noch vertiefen zu können.
Einen weiteren wirtschaftsstrafrechtlich relevanten Bereich stellt die Korruption im Gesundheitswesen dar, die das StGB durch die Vorschriften der §§ 331 ff ahndet. Informativ fand ich den „Ausflug“, des Autors in den Bereich der „Compliance im Gesundheitswesen“, auch wenn dieser relativ überschaubar ausfällt.
Gegen Ende des Buches haben nebenstrafrechtliche Bereiche ihren Platz gefunden, namentlich die Strafbarkeit nach BTMG und AMG, die geltenden Bestimmungen zum Werberecht des Arztes sowie - allerdings nur angerissen - die Vorschriften der Gewerbeordnung.
Nach der Darstellung der Straftatbestände widmet sich der dritte Teil nun folgerichtig den drohenden strafrechtlichen Sanktionen, vorneweg die Anordnung eines Berufsverbots. Noch härter als ein - in der Regel befristetes - Berufsverbot treffen Ärzte, wie die meisten verkammerten Berufe, allerdings die erheblichen außerstrafrechtlichen Folgen - bei so genannten „berufsunwürdigen Handlungen“ bis hin zum Widerruf der Approbation durch die zuständige Approbationsbehörde oder dem Entzug der Kassenzulassung. Der Wichtigkeit dieser Thematik, die nach „überstandenem Strafverfahren“ unter Umständen existenzielle Bedeutung für den Mandanten haben kann, trägt der Autor am Ende seines Buches noch einmal Rechnung.
Im Ergebnis gelingt es dem Autor, trotz der bereits erwähnten relativ „schlanken Erscheinung“ des Buches, die als wirklich äußerst komplex zu bezeichnende Materie des Arztstrafrechtes umfassend und verständlich darzustellen. Der stringente Aufbau macht es möglich, trotz der komplexen Materie, einen guten Überblick zu er- und behalten. Durch die sich zu jedem Tatbestand findenden Prüfungsschemata eignet sich das Buch zu Lehrzwecken. Durch die umfassende Verarbeitung einschlägiger Rechtsprechung, die überwiegend sehr detailreiche Befassung mit den einschlägigen rechtlichen Grundlagen sowie die zahllosen Verweise auf weitergehende Literatur, kann dem Buch jedoch auch fast uneingeschränkt Tauglichkeit für die anwaltliche Praxis, gerade für den Einstieg in das Arztstrafrecht attestiert werden.