Jurgeleit, Handkommentar Betreuungsrecht, 5. Auflage, Nomos 2023
Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl
Der von Jurgeleit herausgegebene Kommentar zum Betreuungsrecht darf auch trotz über 1500 Seiten inklusive Verzeichnissen noch berechtigterweise die Bezeichnung „Handkommentar“ führen: er ist nach wie vor handlich und doch noch übersichtlich. Von Vorteil ist dabei, dass die Qualität des Papiers (noch) so gut ist, dass die Lektüre ohne das Durchscheinen der nachfolgenden oder vorgehenden Druckseiten erfolgen kann. Das Autorenteam ist fachlich versiert und bekannt aus zahlreichen anderen Publikationen zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht. Erstaunlich ist allerdings, dass kein Amtsrichter und kein Rechtspfleger für eine Autorenschaft gewonnen werden konnten.
Im Gegensatz zu anderen „Handkommentaren“ des Nomos-Verlages beschränkt sich das vorliegende Werk auf reine Kommentierungsarbeit und hat keine zusätzlichen Schwerpunktkapitel aufzuweisen, die bei vielen anderen der „roten“ Nomos-Kommentare so prägend sind. Das ist jedoch insoweit nicht weiter dramatisch, dass die Kommentierungen an vielen Stellen fast schon handbuchartig erscheinen und man durch die kontinuierliche Lektüre schnell strukturiertes Wissen weit über die punktuelle Recherche erwerben kann. Kommentiert werden – betreuungsrechtsbezogen – das BGB, das EGBGB, das BtOG und das FamFG.
Durchaus erstaunlich ist, dass die Neuregelungen der ZPO keinen eigenen Abschnitt erhalten haben, sondern dies in einer Art Unterkapitel zu § 1823 BGB positioniert wurde (dort ab Rn. 103). Das halte ich für eine Fehlkonstruktion, zumal der in wenigen Randnummern gedrängten Darstellung auch Aspekte wie das leider nicht erwähnte hohe Konflikt- und Missbrauchspotential der Prozessfähigkeits- und Zustellungsnormen z.B. im Mietrecht zum Opfer gefallen sind (vgl. zur Problematik u.a. Kersting, BtPrax 2022, 115).
Die Kommentierung wird von echten Fußnoten und fett gedruckten Schlagwörtern unterstützt. Bei den Fußnoten wird für meinen Geschmack zu oft nur auf die Gesetzesmaterialien verwiesen, obwohl es (das Vorwort spricht von Stand September 2022) zu vielen Detailthemen bereits sehr viele und gute Aufsätze in den einschlägigen Zeitschriften gibt. Werden diese nur peripher oder gar nicht aufgegriffen, geht eine Hauptaufgabe eines Kommentars verloren. Das sollte in der Folgeauflage dringend nachgeholt werden. Beispielhaft sehen kann man dies gleich zu Beginn bei der Kommentierung des neuen Ehegattennotvertretungsrechts: dort schafft es tatsächlich kein einziger Aufsatz zu dieser kritisch rezipierten neuen Norm in die Fußnoten (und es gäbe einige: z.B. Kemper FamRB 2021, 260; Szantay NZFam 2021, 805; Palsherm jM 2022, 454; Kraemer BtPrax 2021, 208; Finger FuR 2022, 571; Götsche FuR 2022, 506; Mazur / Ziegler GuP 2022, 41; Lugani MedR 2022, 91; Spickhoff FamRZ 2022, 1897). Dennoch ist es schön zu sehen, wie umfassend die neue Norm beleuchtet und auf ihre Friktionen und Unzulänglichkeiten gegenüber Arzt und Ehegatte untersucht wird (Rn. 24 ff.; Rn. 41 ff.). Gerade die Situation, dass der Ehegatte sein Notvertretungsrecht nicht wahrnehmen kann oder will, kann zu dringendem Handlungsbedarf führen (Rn. 42, 43). (Noch) Nicht erwähnt werden in Rn. 5 ff. die Fragen zu Annexkompetenzen des vertretenden Ehegatten (Einsicht in Krankenunterlagen ja, Öffnen der Post nein?; Abschluss von Verträgen ja, Zugriff auf Konten oder Vermögen nein?).
Interessante neue Konstruktionen wie die temporäre Suspendierung einer Vollmacht, § 1820 Abs. 4 BGB, werden aufgegriffen und ausführlich erörtert, Rn. 21 ff. und 39 ff. Dabei könnte noch präziser dargestellt werden, dass es sich tatsächlich nur um einen Eingriff in das „Dürfen“, nicht in das „Können“ des Bevollmächtigten handelt; vielleicht geschieht dies in der Folgeauflage? Dies könnte zum einen mit mehr Binnenverweisen, zum anderen mit einer klareren Fokussierung erfolgen, gerade in Rn. 40 der Kommentierung: was für eine Folge hat denn die Suspendierung gegenüber Dritten im Rechtsverkehr? Es werden zwar über die verschiedenen Absätze hinweg alle relevanten Begriffe benannt, aber es bleiben doch Fragen offen, gerade wenn man sich z.B. die pointierte Aufbereitung des Themas von Fröschle im Vergleich dazu ansieht (Das neue Vormundschafts- und Betreuungsrecht, 1. Auflage, C.H. Beck 2022. S. 17).
Schön zu lesen sind die Absätze zur Kontaktpflicht des Betreuers, § 1821 Abs. 5 BGB, Rn. 61 ff., die inzwischen zu einer Hauptpflicht aufgewertet wurde: Der Betreute soll, wenn möglich, wieder in die Selbständigkeit geführt und nicht nur verwaltet werden. Auch beim Heimaufenthalt geht Kontakt vor Effizienz. Die Kontaktaufnahme ist in Bezug auf Anlass und Frequenz deshalb auch zu Recht Teil des Jahresberichts, § 1863 BGB, und ein möglicher Entlassungsgrund, § 1868 BGB.
Die oben schon erwähnte hohe Anwendbarkeit des Kommentars zeigt sich stets, wenn die Autoren die Norm auf den Rechtsverkehr herunterbrechen und damit die Kernkommentierung zugunsten der Rechtsanwender überschreiten. Neben den schon erwähnten Ausführungen zu neuen Regelungen finden sich auch zu ganz klassischen Fragen entsprechende umfangreiche Unterkapitel, so etwa zu den Auswirkungen des Einwilligungsvorbehalts auf den außergerichtlichen Bereich (§ 1825 BGB, Rn. 44 ff.): was geschieht mit Willenserklärungen? was mit Verträgen?
Eine hohe Praktikabilität zeigt sich zudem in den Unterabschnitten zur Bedeutung der jeweiligen Norm für das Betreuungsgericht. Die Tätigkeit am Betreuungsgericht führt zudem für alle Beteiligten zu viel Publikumsinteraktion, sodass auch die Außenwirkung des Tätigwerdens stets mitbedacht werden muss. Dies kommt etwa in den Ausführungen zur Aufsicht durch das Betreuungsgericht, § 1862 BGB, schön zum Tragen, wenn zum einen die zu überwachenden Pflichtwidrigkeiten beim Führen der Betreuung vielfältig aufbereitet werden, zum anderen aber auch auf das richtige Augenmaß bei der Wahl möglicher Eingriffe hingewiesen wird (Rn. 8).
Im Bereich des Verfahrensrechts gefallen insbesondere die Ausführungen zu § 278 FamFG, wenn es um Art, Ausgestaltung und Intensität der Anhörung des Betroffenen, der Inaugenscheinnahme und der Hinzuziehung eines Verfahrenspflegers oder auch der Dokumentation dieser Vorgänge (instruktiv Rn. 39, 40) geht. Die Untermauerung der Kommentierung durch die Rechtsprechung ist akribisch, wenngleich man sich dort wie hier (also in der BGH-Rechtsprechung als auch im Kommentar) als Amtsrichter ein wenig mehr Realitätsbezug zu den Anhörungssituationen wünschen würde. Denn der Erkenntnisgewinn aus den Anhörungen oder gar aus der Inaugenscheinnahme ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle denkbar gering, gerade weil auch der Entscheidungsspielraum des Richters angesichts der Anforderungen an die ärztlichen Gutachten ebenso gering geworden ist, was die Kommentierung in § 280 FamFG, Rn. 2, ungewollt deutlich zum Ausdruck bringt: das Gericht soll sich auch bei offensichtlichen Beeinträchtigungen bloß nicht dazu aufschwingen, Entscheidungen ohne einen (Fach-)Arzt zu treffen. Wozu man dann überhaupt noch einen Volljuristen für „Entscheidungen“ über die Betreuung benötigt, wäre eigentlich eine grundlegende Debatte wert.
Abschließend möchte ich noch auf die Kommentierung zu § 317 FamFG hinweisen, wo die selten genutzte Möglichkeit erörtert wird, dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, worauf der Verfahrenspfleger folgerichtig zu entlassen wäre (Rn. 7).
Was bleibt als Fazit? Der Kommentar ist und bleibt für die Rechtsanwender eine sichere Bank. Die Eindrücke aus den Vorauflagen (Besprechung der 3. Auflage, Besprechung der 4. Auflage) bestätigen sich auch unter dem neuen Recht. Die Autoren verschaffen den Nutzern einen sicheren Zugang zu den Neuregelungen und setzen diese in Bezug zum bisherigen Recht, soweit es erhalten geblieben ist. An mancher Stelle dürfte noch ein wenig kosmetische Nacharbeit nötig sein, aber insgesamt ist dieser Handkommentar, gerade wegen des differenzierten Fokus auf die einzelnen Verfahrensbeteiligten, nur zu empfehlen.