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Rezension: Strafrecht Besonderer Teil

Arzt / Weber / Heinrich / Hilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 4. Auflage, Gieseking 2021

Von RAG Dr. Benjamin Krenberger, Landstuhl

Als komplementäre Ergänzung zum Lehrbuch zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches erscheint das Werk zum Besonderen Teil parallel und in vierter Auflage. Auch dieses Werk kann man durchaus als „Tübinger Lehrbuch“ bezeichnen, sind die jetzigen Autoren doch Schüler der damaligen dortigen Ordinarius Weber. Es ist erfreulich und beeindruckend, wenn akademisches Wissen auf diese Weise fortgeführt wird.

Das Werk ist fast 1300 Seiten stark, ist dank relativ dünner Seiten noch handlich, bringt aber gerade wegen der dünnen Seiten Nachteile mit sich, da die Schrift der nächsten Seite durchscheint und die Lektüre unangenehm hindert. Das Lehrbuch ist textlastig, zwar mit verschiedenen Elementen wie abgesetzten Beispielen, Fettdruck, echten Fußnoten oder kleiner gedruckten vertiefenden Einschüben. Aber moderne Erscheinungen wie Grafiken, Schaubilder, Schemata oder Ähnliches sucht man vergeblich. Die Randnummern beginnen in den einzelnen Kapiteln jeweils neu, sodass man für das Auffinden von Fundstellen aus dem Sachverzeichnis manchmal ein bisschen mehr Zeit als nötig für das Blättern einplanen muss. Ein Online-Zugriff auf das Werk wird nicht angeboten.

Das Werk ist in mehrere Teile untergliedert, die wiederum in Kapitel (§) sortiert sind. Wenn wie hier der gesamte Besondere Teil des StGB in einem Lehrbuch dargestellt wird, erfordert dies seitens der Autoren eine gewisse Verknappung, was jedoch der Aufbereitung des Stoffes nicht schadet. Es heißt nicht umsonst, dass es weitaus schwerer ist, ein kurzes Buch zu schreiben als dies mit einem langen der Fall wäre. Dazu passt, dass einzelne Normen nicht gesondert ausgearbeitet werden, sondern auf vergleichbare Normen verwiesen wird (fahrlässige Körperverletzung, S. 170, mit Verweis auf die fahrlässige Tötung).

Das erste Viertel des Buches ist den Delikten gegen die Person vorbehalten. Dabei ist eine Einführung vorangestellt, die u.a. das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem Teil thematisiert oder auch die Systematisierung des Besonderen Teils nach Rechtsgütern erläutert. In den Kapiteln zu den einzelnen Delikten wird dann aber nicht nur Bekanntes und Bewährtes heruntergebetet, sondern die Autoren setzen schöne Statements. Hinzuweisen ist bspw. auf S. 36 ff., auf denen Hilgendorf den „Kollaps“ des § 211 StGB unter der Last des case law beschreibt. Dass dabei auch markige Worte fallen, indem z.B. dem BVerfG eine „Fehlkonzeption“ vorgeworfen wird oder ein „Publikationsexzess“ beklagt wird, ist gut für das Verständnis der wahrlich schwierigen Lage rund um das Verhältnis von Mord und Totschlag: man muss die Probleme beim Namen nennen, um sie überhaupt begreifen zu können. Und genau dies darf, ja muss ein Lehrbuch tun, um eine Materie tatsächlich zu „lehren“. Verständnis, nicht Repetition ist der Schlüssel.

Hierzu passt auch, dass die Autoren die durchaus große Aufgabe haben, neue Rechtsprobleme und –entwicklungen in die althergebrachte Systematik des StGB einzupflegen. In einer klage- und konfliktfreudigeren Gesellschaft, die auf eigene Risikominimierung aus ist, ist es nicht überraschend, wenn vermehrt Berufe in den strafrechtlichen Fokus geraten, die früher wenig antastbar schienen. Hilgendorf beschreibt dies sehr anschaulich in den Passagen zur hypothetischen Einwilligung (S. 168 ff.) bei Operationen.

Teil II des Werks ist dann den Straftaten gegen das Eigentum und sonstige Vermögenswerte gewidmet, Teil III den Vermögensdelikten. Beide Teile zusammen nehmen gute 500 Seiten ein, was der Bedeutung der zugehörigen Tatbestände, aber auch deren Komplexität entspricht. Wiederum ist eine Einführung vorangestellt, in der unter anderem die Wirtschaftskriminalität von klassischen Vermögensdelikten abgegrenzt wird. Auf diese Problematik wird auch immer wieder zurückgegriffen, bspw. bei der Abgrenzung zwischen Betrug und Geschäftstüchtigkeit (S. 525). Innerhalb der Kapitel werden dann Klassiker des Prüfungsrechts behandelt, etwa das Zusammenspiel zwischen Regelbeispiel und Versuch beim Diebstahl (S. 386 ff.), wobei die verschiedenen Konstellationen benannt werden, um anschließend die Handhabung durch den BGH zu präsentieren. Hilfreich ist auch, dass Heinrich im Anschluss Hinweise zur Klausurtechnik erteilt, um die Einordnung von z.B. § 243 StGB richtig vornehmen zu können, obwohl Strafzumessungserwägungen kein Prüfungsbestandteil im ersten Staatsexamen sein sollen. „Neue“ Tatbestände wie der Wohnungseinbruchsdiebstahl werden mit der gebotenen Kritik begleitet (S. 404/5). Dennoch hätte ich mir hier wenigstens einen Satz zum Inhalt der Tenorierung bei § 244 Abs. 4 StGB gewünscht („schwerer Wohnungseinbruchdiebstahl“, vgl. BGH NStZ 2019, 674).

In Teil IV werden sodann die Anschlussstraftaten erläutert, darunter Strafvereitelung oder Geldwäsche. Dass auch hier klare Worte für ein gelinde gesagt schwieriges Vergehen wie § 261 StGB gefunden werden („Tatbestand ohne Herz und Hirn“, S. 803), um so die Bagatellisierung der Norm zu kritisieren, ist positiv herauszustellen: nur so können Studenten abseits theoretischer Scheingefechte den Sinn oder Unsinn einer Regelung erkennen und auf diesem Wissen weitere Studien betreiben. Schön zu sehen ist auch, wie mit klar strukturierten und guten Argumenten eine mögliche Privilegierung der Strafverteidigung im Hinblick auf die Annahme „schmutzigen Geldes“ analysiert wird (S. 818 ff.), um anschließend auf die Rechtsprechung von BGH und BVerfG sowie den inzwischen geltenden § 261 Abs. 1 S. 3 StGB abzustellen.

Die Fälschung von Urkunden und anderen Beweismitteln wird in Teil V aufgegriffen. Auch wenn der Bearbeitungsstand laut Vorwort Juli 2021 war, hätte ich mir an hierfür geeigneten Stellen (S. 833 ff., 865, 875) Überlegungen zu gefälschten Impfzertifikaten gewünscht, wo doch die CoVid-19-Pandemie das beherrschende Thema dieser Zeit war und ist.

Die Gefährdungsdelikte werden sodann in Teil VI auf überschaubaren 150 Seiten komprimiert dargestellt, was schon zeigt, dass in der Prüfungsgeeignetheit und Prüfungsbeliebtheit andere Delikte weitaus höher in der Wertigkeit stehen. Die pragmatische Zusammenfassung gelingt auch deshalb, weil in einem Grundlagenkapitel etliche Rechtsfragen ausgeklammert werden, etwa die verschiedenen Gefährdungsbegriffe (S. 908) oder Klassiker wie die Bedeutung des § 11 Abs. 2 StGB für die Teilnahme an Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen (S. 928). Schön wäre dabei in Rn. 106 noch der kleine Hinweis auf die Tenorierung des Delikts gewesen, etwa in einer Fußnote, wenn schon klargestellt wird, dass es sich um eine Vorsatztat handelt. Aktuell hoch umstrittene Normen wie der „neue“ § 315d StGB werden aber so knapp abgehandelt (S. 975), dass man sich da für die Folgeauflage ein wenig mehr dogmatische Aufbereitung wünschen würde - gerade wenn man im Vergleich sieht, wie viele kritische Worte sich schon einleitend zur Unfallflucht finden.

Abgeschlossen wird das Werk mit den Kapiteln zu den Delikten gegen den Staat (Teil VII). Hier gefällt mir vor allem die Einleitung zu den Widerstandsdelikten §§ 113, 114 StGB (S. 1077 ff.), wo zutreffend klargestellt wird, dass die Privilegierung des § 113 StGB für bestimmte Täterkreise verfehlt ist, da deren gewaltsames Aufbegehren gegen den Staat von vornherein einkalkuliert ist.

Es ist immer wieder erfreulich, wie viel Vergnügen die Lektüre von Lehrbüchern machen kann, auch wenn man längst in der Praxis angekommen und eigentlich nur noch mit Kommentaren befasst ist. Aber erst mit diesem praktischen Wissensstand lernt man viele der kritischen Ausführungen, die sich in diesem Werk finden, richtig zu schätzen und kann manche Auslassung mit einem Schmunzeln quittieren. Gerade wegen der begleitenden Einschätzungen der Autoren eignet sich das Buch aber auch sehr gut zur Vorbereitung auf die mündlichen Prüfungen des zweiten Staatsexamens, für den Prüfling und für den Prüfenden: um einen Blick hinter die Norm zu werfen.

Für Studenten ist das Lehrbuch natürlich ebenfalls zielführend und hilfreich, wenngleich die Lektüre an mancher Stelle schon sehr konzentriert erfolgen muss, um den Wissensschatz der Autoren voll erfassen und nutzen zu können. Es ist kein Skript, sondern ein anspruchsvolles Werk. Wer sich darauf einlässt und die Lektüre mit Zeit und Konzentration angeht, wird auch entsprechend belohnt werden.


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