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Rezension: Europarechtliche Grenzen der Tätigkeiten von Normungsorganisationen

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Masuhr, Europarechtliche Grenzen der Tätigkeiten von Normungsorganisationen. Eine Untersuchung am Maßstab des EU-Wettbewerbsrechts und der Grundfreiheiten, 1. Auflage, Nomos 2019

Von Dr. Sebastian Felz, Rheinbach

Seit über 100 Jahren bestimmen Normen und Standards die Produktwelt der Industriegesellschaft. Die Binnenmarktharmonisierungsrechtsakte des „New Approach“ wie zum Beispiel die Maschinenrichtlinie 2006/42/EG enthalten Vorgaben für das Vorliegen der Konformitätsvermutung für solche Produkte, die nach europäischen und harmonisierten Normen hergestellt worden sind. Im Umwelt- und Technikrecht werden Normen in Bezug genommen, um die gesetzlichen Anforderungen an Produkte oder Richtwerte zu konkretisieren. Die Rechtsprechung benutzt Normen, um beispielsweise den Fahrlässigkeitsmaßstab des deliktischen Verhaltens nach § 823 Abs. 1 BGB auszufüllen. Auch wenn Normen und Standards im Regelfall freiwillige Übereinkünfte von privaten Wirtschaftsakteuren sind, können Sie aufgrund der eben dargestellten Anwendungsfälle häufig eine enorme wirtschaftssteuernde Kraft entfalten. Maya Sofie Masuhr stellt deshalb in ihrer Dissertation, die an der Europa-Universität Vidarina Frankfurt (Oder) verfasst worden ist, die Frage, welche europarechtlichen Grenzen die Tätigkeit von Normungsorganisationen gesetzt werden können oder zu setzen sind.

Ein wichtiger Anstoß für ihre Untersuchung stellt die EuGH-Entscheidung „Fra.bo“ (EuGH, Urt. v. 12.7.2012, Rs. C-171/11) dar, in der der EuGH – aufgrund einer Vorlage des OLG Düsseldorf – entschied, dass der „Deutsche Verein des Gas- und Wasserfaches – DVGW“ bei seiner Normungs- und Zertifizierungstätigkeit an die Grundfreiheiten des AEUV gebunden ist (zuletzt dazu: Saria, Private Normung als staatliche Maßnahmen, EuZW 2020, S. 53 und S. 90). Unbeantwortet lassen konnte der EuGH die alternativ gestellte Frage des OLG Düsseldorf, ob der DVGW an die Regeln des EU-Wettbewerbsrechts (Art. 101 f. AEUV) gebunden sei. Diese Antwort gibt die Autorin. Sie führt dieses Unterfangen in sechs Kapiteln durch. Nach der Einleitung (Kapitel 1) werden im zweiten Kapitel die begrifflichen Grundlagen gelegt und sowohl die nationalen als auch die drei europäischen Normungsorganisationen (CEN, CENELEC und ETSI) untersucht und vorgestellt. Im europäischen Vergleich kommt die Autorin dabei zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Zahl der Normungsorganisationen privatrechtlich verfasst ist. Gleiches gilt für die drei europäischen Normungsorganisationen die als private und gemeinnützige Vereine organisiert sind.

Im dritten Kapitel geht es um die Wirkungen von Normen sowohl in rechtlicher als auch in ökonomischer Hinsicht. Hier stellt Masuhrzunächst die Einbindung von Normen im Bereich des europäischen Produktsicherheitsrechts dar. Danach können Hersteller, die ihre Produkte nach harmonisierten Normen produzieren, die Vermutungswirkung für sich in Anspruch nehmen, dass sie durch normgemäßes Produzieren die Sicherheitsziele der jeweiligen Harmonisierungsrechtsakte einhalten. Im Bereich des Umwelt- und Technikrechts werden die verschiedenen Fallgestaltungen der Nutzbarmachung von Normen durch normergänzende bzw. normkonkretisierende Verweisungen sowie normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften erläutert. Schließlich wird anhand der Konkretisierung von Verkehrssicherungspflichten im Zivilrecht, der Frage nach dem Anscheinsbeweis im Zivilprozessrecht und der Problematik der anerkannten Regeln der Technik im privaten Baurecht die Rolle der Normen im Privatrecht beleuchtet. Aus ökonomischer Sicht wird die Normung im Hinblick auf die Rationalisierung von Herstellungsprozessen, die damit einhergehende Senkung von Transaktionskosten, die Kompatibilität von Produkten im gesamten Netzwerk der Wirtschaft als mögliche Effekte der Förderung von Wettbewerb und Innovation positiv gesehen. Es kann aber auch passieren, dass Innovationen sich nicht durchsetzen können, weil die Wechselkosten, um die neuen Technologien zu nutzen, für die Marktteilnehmer zu hoch sind. Hier kann die Normung hemmend wirken.

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt im fast 200 Seiten umfassenden vierten Kapitel dieser Dissertation, welches schlicht mit der Überschrift „Grenzen“ überschrieben ist. Die Autorin weist nach, dass die Tätigkeit in den Normungsorganisationen unter die kartellrechtlichen Vorschriften (Art. 101 ff. AEUV) des Europarechts fällt. In den Normungsorganisationen kommen insbesondere Wirtschaftsakteure zusammen, die dem Unternehmerbegriff unterfallen. Auch die nationalen Normungsorganisationen können dem Begriff der „Unternehmensvereinigung“ subsumiert werden. Die Verabschiedung einer Norm sei regelmäßig sowohl eine Vereinbarung zwischen Unternehmen als auch eine abgestimmte Verhaltensweise bzw. ein Beschluss einer Unternehmensvereinigung. Da die Ausgestaltung der einzelnen Normen sehr weitgehend den einzelnen Normungsorganisationen überlassen ist, können weder staatliche Aufträge noch spätere staatliche Verweise in Gesetzen die privatautonome Gestaltung beeinflussen. Als mögliche Rechtfertigungsgründe für dieses abgestimmte Vorgehen kommen in Betracht: Ein transparentes, diskriminierungsfreies und beispielsweise in Bezug auf finanzielle Aufwendungen angemessenes Verfahren der Erarbeitung einer Norm für alle interessierten Marktteilnehmer. Im Lichte des Art. 101 Abs. 3 AEUV stellt sich insbesondere die Frage, ob eine Norm der Verbesserung der Warenerzeugung bzw. der Förderung des technischen Fortschritts dient. Hier muss im Einzelfall abgewogen werden, ob durch die Norm mögliche Kosteneinsparungen, die Erzielung von Größenvorteilen, der vereinfachte Marktzutritt für neue Wettbewerber oder mögliche innovationsfördernde Wirkung des Standards festzustellen sind. Negativ fiel die Prüfung aus, wenn die Norm innovationshindernde Wirkungen entfaltet oder sich Marktschließungseffekte zeigen. Des Weiteren ist bei der Vermarktung von Normen durch die entsprechenden Normungsorganisationen darauf zu achten, dass diese Monopolisten auf den jeweiligen Märkten der Standardisierung ihre marktbeherrschende Stellung nicht durch beispielsweise überhöhte Verkaufspreise der Normen ausnutzen. In Staaten wie Polen oder Frankreich, in welchen der Staat auf die jeweiligen Normungsorganisationen sehr großen Einfluss besitzt oder sie als Teile des Staates organisiert hat, muss die Vorgabe des Art. 106 AEUV beachtet werden, dass auch staatliche Organisationen den Wettbewerbsvorschriften des Europarechts unterliegen. Auch privatrechtlich organisierte Organisationen im Bereich der Normung und Standardisierung können Adressaten der Grundfreiheiten sein, wenn ihre Standards als Hindernisse zum Binnenmarktzugang Wirkungen entfalten können, so die Fra.bo-Rechtsprechung des EuGH. Eine solche hindernde Wirkung wird insbesondere dann zu bejahen sein, wenn faktische Bindungswirkungen von dem jeweiligen Standard ausgehen. Diese Bindungswirkung ist aus den jeweiligen rechtlichen und ökonomischen Marktbedingungen zu folgern. Die Normungsorganisationen können sich jedoch auch auf ihre Grundfreiheiten und Grundrechte als jeweiliger Rechtfertigungsgrund berufen. Möglich ist es auch, die Beschränkungen durch Normen und Standards etwa durch zwingende Gründe des allgemeinen Interesses (Förderung des Wettbewerbs, Umweltschutzes oder Verbraucherschutzes) zu rechtfertigen. Was sind die Folgen, wenn Normen und Standards gegen das europarechtliche Kartellverbot verstoßen? Wettbewerbsbeschränkenden Normen, so Masuhr, sind nach Art. 101 Abs. 2 AEUV nichtig. Kaufverträge über Normen, deren Preisgestaltung aufgrund der marktbeherrschenden Stellung missbräuchlich ist, sind nach § 134 BGB nichtig. Aufgrund möglicher Verstöße gegen die Grundfreiheiten sind Staaten, Normungsorganisationen und Zertifizierungseinrichtungen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.8.2013 – VI-2 U (Kart) 15/08) verpflichtet, solche Normen nicht zu beachten und nicht zu verwenden. Des Weiteren können sich Schadensersatz-, Unterlassung- und Beseitigungsansprüche aus den §§ 33 und 33a GWB sowie 280, 241 und 823 Abs. 2 BGB ergeben.

Maya Sofie Masuhrhat eine überzeugende Antwort auf die zweite Vorlagefrage des OLG Düsseldorf (BeckEuRS 2011, 578567) durch ihre Analyse der wettbewerbsrechtlichen Bindungen von Normungsorganisationen unter sorgfältiger und umfassender Auswertung von Literatur und Rechtsprechung vorgenommen, die aufgrund eines klaren Aufbaus und einer präzisen Sprache sehr gut zu lesen ist.


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