Wendler / Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 9. Auflage, Sozialmedizinischer Verlag 2018
Von RAin, Fachanwältin für Sozialrecht Marianne Schörnig, Düsseldorf
"Versorgungsmedizinische Grundsätze. Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin – Verordnung", so der korrekte Titel des Buches, genau wie der offizielle Titel der Verordnung. Viele Betroffene glauben, Schwerbehindertenrecht, insbesondere der Grad der Behinderung würde sich aus dem entsprechenden Gesetz, nämlich dem Sozialgesetzbuch IX, ergeben. Das ist ein Irrtum. Kernstück des Schwerbehindertenrechts ist vielmehr die Versorgungsmedizin – Verordnung bzw. noch genauer die versorgungsmedizinischen Grundsätze.
Die Versorgungsmedizin – Verordnung besteht aus vier Teilen, die wichtigsten davon sind Teil A (Allgemeine Grundsätze), Teil B (GdS – Tabelle) und Teil D (Merkzeichen). Die Versorgungsmedizin – Verordnung löste zum 01.01.2009 die bis dahin geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit in sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" ab. Über die Lust von Juristen an möglichst langwierigen Gesetzestiteln habe ich mich schon an anderer Stelle ausgelassen. In den ersten vier Jahren des Inkrafttretens ergingen die erste bis fünfte Verordnung zur Änderung. Seitdem hat der Gesetzgeber (bis auf das schon hinlänglich oft besprochene Bundesteilhabegesetz, BTHG) Ruhe gegeben, - aber auch nur er. Die Rechtsprechung war weiterhin rege zu Gange und so erscheint das Buch in der neunten Auflage.
Wie jeder Kommentar orientiert es sich in der Reihenfolge strikt am Aufbau der Versorgungsmedizin – Verordnung (wobei der Aufbau ein Kapitel für sich ist, aber dazu später mehr). Das Vorwort ist kurz, knapp und sehr sachlich: Es gab zuerst die AHP, dann die versorgungsmedizinischen Grundsätze, anschließend die erste bis fünfte "Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin – Verordnung vom [Datum]" sowie den Inhalt. Punkt. Das wars. Keine Kommentare zur Tätigkeit der Rechtsprechung, keine ellenlangen Danksagungen. Der jeweilige Text der Verordnung ist anschließend in eingegrauten Kästchen dargestellt. "Grade der Schädigungsfolgen" ist gesetzeshistorisch bedingt und wurde 1986 für das Schwerbehindertenrecht in Grad der Behinderung umgewandelt. Inhaltlich änderte sich dadurch nichts. Im ersten Teil ist trotzdem der heutige § 2 SGB IX, der Behinderung und Schwerbehinderung definiert, dem damaligen § 3 SchwbG gegenübergestellt. Für die Vollständigkeit interessant. Teil A sticht insoweit heraus, als dass hier die Grundsätze der Bildung des Grades der Behinderung detailliert erläutert werden; obwohl das an der immer wieder anzutreffenden Addition der einzelnen Grad der Behinderung nichts ändert und auch niemals ändern wird. Das liegt daran, dass die Rechtsprechung und die Fachmediziner die Bildung des Gesamt – GdB als Hexenwerk darstellen. Unter einer "maßvollen Erhöhung" des höchsten Einzel – GdB, einem "starken" Einzel – GdB kann man sich nur schwerlich etwas vorstellen. Immerhin wird im ersten Teil des Kommentares erschöpfend die Präzisierung der Grundsätze durch diverse LSG und das BSG dargestellt.
Einen großen Teil im gesamten Buch nehmen die Verweise auf die Beiratsbeschlüsse ein. Der Beirat ist ein Gremium bestehend aus Ärzten beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das sich mit (fachärztlichen) Fragen zur Bewertung von Behinderungen auseinandersetzt. Dieser Beirat hat im Schwerbehindertenrecht, wie überhaupt Mediziner, eine immense Bedeutung und es ist unverständlich, warum angesichts dessen seine Bedeutung und die Auswirkungen seiner Aussagen in der (betroffenen) Öffentlichkeit so wenig bekannt sind und hinterfragt werden (aber Überlegungen hierzu würden hier im Rahmen einer Rezension einfach zu weit führen). Anklänge einer Kritik an der Begründung des Gesamt – GdB finden sich zwar im allgemeinen Teil, aber der Autor stellt nur (resigniert?) fest, dass eine solche Forderung "offensichtlich unrealistisch" ist und dass eine unzureichende Begründung der Verwaltungsentscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren nur Konsequenzen für die Kostenentscheidung hat.
Dem kruden Aufbau der versorgungsmedizinischen Grundsätze muss sich dieser Kommentar anschließen. Zwar ist die Gliederung der versorgungsmedizinischen Grundsätze eigentlich eindeutig: Teil A Allgemeines, B GdS Tabelle, D Merkzeichen. Doch ist es unverständlich, dass die Voraussetzungen von Hilflosigkeit (Merkzeichen "H") und Blindheit (Merkzeichen "Bl") in Teil A enthalten sind, die Voraussetzungen für "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) überhaupt nicht in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen enthalten sind, sondern im Gesetzestext des SGB IX. Stoisch wird diese Kommentierung abgearbeitet und freundlicherweise trotzdem "aG" kommentiert. Immer noch in Teil A folgt dann eine Abhandlung über "wesentliche Änderung der Verhältnisse". Der große Vorteil dieser Kommentierung ist, dass die §§ 44, 45 und 48 SGB X, die sonst mit den immer gleichen Beispielen verdeutlicht werden, hier ausschließlich mit ihrer Bedeutung für das Schwerbehindertenrecht geschildert werden. Dann - endlich – das Herzstück des Schwerbehindertenrechts, die Grad der Behinderung Tabelle von Kopf bis Fuß (wortwörtlich). Die einzelnen Erkrankungen bzw. Erkrankungsbilder und ihre Einzel GdB stehen in grauen Kästchen, in der anschließenden Kommentierung sind zahlreiche Verweise, insbesondere auf Beschlüsse des Sachverständigenbeirats (SVB) und Rechtsprechung; nicht nur des BSG sondern auch verschiedener Instanzen. Für den Praktiker und Nichtmediziner sind besonders weiterführend die Verweise auf medizinische Quellen, z. B. bei Hör- und Gleichgewichtsorgan der deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde zu leichtem, mittlerem und schwerem Hörverlust.
Im Anhang befinden sich nicht (mehr) in den VMG enthaltene Unterlagen, Hinweise u. a. zum richtigen "Lesen" der Formblätter zur Neutral-0-Methode oder – extrem bedeutsam für jeden, der sich mit dem Thema Heilungsbewährung befasst – die TNM Klassifikation aus dem "Pschyrembel" (Klassiker der Medizinliteratur).
Angesichts der überragenden Bedeutung der versorgungsmedizinischen Grundsätze ist es äußerst überraschend, dass dieser Kommentar konkurrenzlos dasteht, während der Markt mit Kommentaren zum SGB IX geradezu geflutet wird. Herausgeber ist der VdK. Andererseits hat die potentielle Konkurrenz wahrscheinlich schon im Vorfeld erkannt, dass es schwer wenn nicht unmöglich sein dürfte, dieses Werk noch zu toppen. Es steht einfach alles drin, von den bescheidenen Anfängen der Rechtsprechung zu den damals geltenden Anhaltspunkten in den frühen achtziger Jahren bis zu aktuellen Änderung durch das BTHG.