Gräfl / Oetker / Lunk / Trebinger, 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 1. Auflage, C.H.Beck 2020
Von Rechtsanwalt Marc Becker, Leipzig
Es kommt nicht allzu häufig vor, dass einem Gesetz eine Festschrift gewidmet wird. Diese Ehre ist – soweit ich das überblicken kann – weder der StPO, ZPO noch dem BGB zu Teil geworden, obwohl alle drei Gesetze auf eine noch längere Geschichte zurückblicken können. Dies mag vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass der damalige Gesetzgeber mit dem BetrVG einen besonderen Schritt gewagt und für das Zusammenleben im Betrieb quasi eine eigene demokratische Rechtsordnung geschaffen hat. Und diese Rechtsordnung stellt – relativ unbestritten – eine große Erfolgsgeschichte dar. „Das Betriebsverfassungsgesetz müsste erfunden werden, wenn es nicht schon real existierte.“ Das Zitat wird einem ehemaligen Personalvorstand des Chemiekonzerns Henkel zugeschrieben und verdeutlicht den Stellenwert und die herausragende Bedeutung des Betriebsverfassungsgesetzes.
Zum 100jährigen Jubiläum des Inkrafttretens des BetrVG haben die VRi´inBAG Edith Gräfl, RA Dr. Stefan Lunk, Prof. Harmut Oetker und Ministerialrätin Yvonne Trebinger die vorliegende Festschrift herausgegeben. Das Werk umfasst neben dem Vorwort insgesamt 62 Beiträge auf 854 Seiten. Das Autorenteam ist überaus prominent besetzt und umfasst unter anderem zahlreiche Universitätsprofessorinnen und -professoren, Richterinnen und Richter des BAG, als Experten auf dem Gebiet der Betriebsverfassung ausgewiesene Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen.
Das Werk an sich ist nicht thematisch gegliedert. Die Reihenfolge der Beiträge ist alphabetisch nach dem Namen der Autoren geordnet. Vorangestellt ist ein kurzes Literaturverzeichnis, dass die Zitierung insbesondere der betriebsverfassungsrechtlichen Standardwerke ausweist. Das Themenspektrum reicht von allgemeinen Grundlagen („Die Entstehung des Betriebsrätegesetzes“; „100 Jahre betriebsverfassungsrechtlicher Betriebsbegriff“) bis hin zu speziellen Detailfragen („Zur Regelungsmacht der Betriebsparteien für Betriebsrentner“; Interdependenzen zwischen dem Sozialplanprivileg aus § 112a Abs. 2 BetrVG und der Gestaltung von Betriebsübergängen nach § 613a Abs. 1 BGB“).
Inhaltlich ist eine Festschrift freilich immer nicht ganz einfach zu rezensieren, da nicht unmittelbar die Frage nach dem praktischen Nutzen oder dem wissenschaftlichen Beitrag insgesamt beantwortet werden kann. Aus diesem Grund sollen einzelne Beiträge beispielhaft herausgegriffen werden.
Mit großem Interesse habe ich den Beitrag von Prof. Martin Franzen zum dritten Geschlecht im Betriebsverfassungsrecht gelesen. Die Diskussion beruht im Wesentlichen auf dem Beschluss des BVerfG vom 10. Oktober 2017 und der damit verbundenen – vereinfacht gesagt – rechtlichen Anerkennung geschlechtlicher Varianzen neben der binären Einordnung weiblich/männlich. Obwohl mit dem Beschluss „nur“ eine personenstandsrechtliche Frage geklärt wurde, führte der Beschluss insbesondere in Vorbereitung der turnusmäßigen Betriebsratswahlen im Frühjahr 2018 zu erheblichem Diskussionsbedarf in Betriebsratsschulungen. Hintergrund ist, dass § 15 Abs. 2 BetrVG zur Bestimmung des Geschlechts in der Minderheit im Betrieb zwingt und grundsätzlich nur von der binären Verteilung weiblich/männlich ausgeht. Das Geschlecht in der Minderheit hat unter Umständen einen Anspruch auf einen Mindestsitz im Betriebsrat. Da dem Wortsinn immer nur ein Geschlecht in der Minderheit sein kann, führte die Anerkennung des dritten Geschlechts zu Fragen über die Auslegung von § 15 Abs. 2 BetrVG. Der Gesetzgeber ist hier bislang nicht tätig geworden und beabsichtigt dies – soweit bekannt – auch vorerst nicht. Franzen arbeitet überzeugend heraus, dass § 15 Abs. 2 BetrVG historisch der Erhöhung des Anteils weiblicher Betriebsratsmitglieder diente. Vor diesem Hintergrund stellt er fest, dass die Anerkennung des dritten Geschlechts und dem damit verbundenen Minderheitenschutz im Rahmen von § 15 Abs. 2 BetrVG nicht dazu führen darf, dass der historisch gewollte Minderheitenschutz gegenstandlos werden würde. Franzen kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass grundsätzlich das Minderheitengeschlecht zu bestimmen. Ist dies das dritte Geschlecht und würde auf dieses aufgrund des Höchstzahlverfahrens nach D´Hondtkein Betriebsratssitz entfallen, soll das zahlenmäßig nächst größere Geschlecht dem Minderheitenschutz gem. § 15 Abs. 2 BetrVG unterfallen. Im Ergebnis scheint mir dies eine ausgewogene Lösung auch ohne gesetzliche Neuregelung zu sein, auch wenn Restzweifel bestehen, ob die Lösung über eine Auslegung der Norm erreicht werden kann.
Auch der Beitrag von Prof. MatthiasJacobs und RiLAG Dr. Tino Frieling zur betrieblichen Mitbestimmung im Flugbetrieb greift einen äußert aktuellen Themenbereich des BetrVG auf. Der Gesetzgeber hat mit der sog. Lex Ryanair die althergebrachte Regelung aufgeweicht, wonach im Flugbetrieb Betriebsvertretungen nur aufgrund eines Tarifvertrages errichtet werden konnten. Die entsprechende Änderung des § 117 BetrVG wurde durch Ergänzungsantrag in das parlamentarische Verfahren zum „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Chancen für Qualifizierung und für mehr Schutz in der Arbeitslosenversicherung (Qualifizierungschancengesetz)“ eingebracht und quasi hinter zahlreichen Vorschriften zum SGB „versteckt“. Die Gesetzesbegründung umfasst zwei kurze Abschnitte, die die wesentlichen mit der Gesetzesänderung einhergehenden Fragen nicht einmal anreißen. Jacobs/Frielieng geben in ihrem Beitrag einen umfassenden Überblick über die sich aus der Neuregelung ergebenden Folgefragen und bieten hierfür überzeugende Lösungsmöglichkeiten. Auch zur Frage der Vereinbarkeit der Neuregelung mit Unions- und Verfassungsrecht nehmen sie Stellung. Allerdings vermögen es die Autoren nicht, mich von der Verfassungsmäßigkeit der Norm der zu überzeugen. Bislang fehlt es meiner Auffassung nach an einer überzeugenden Rechtfertigung, warum nunmehr das „fliegende Personal“ die einzige Beschäftigtengruppe sein soll, die ihre Mitarbeitervertretung sowohl auf das BetrVG stützen als auch eine eigene Mitarbeitervertretung durch Tarifvertrag errichten kann. Die tarifvertragliche Regelung und die Herausnahme aus dem BetrVG wurden stets damit begründet, dass das BetrVG den Besonderheiten des fliegenden Personals nicht gerecht werden könnte. Nunmehr soll dies offenbar nicht mehr gelten, eine Regelung für genau diese Besonderheiten durch Tarifvertrag allerdings möglich sein. Dabei überzeugt auch nicht das Argument des Mindestschutzes durch das BetrVG, da dieses auch bisher schon gegen § 117 BetrVG hätte eingewandt werden können.
Weitere überaus interessante Perspektiven bietet der Beitrag von Prof. Rüdiger Krause zu „Sozialverträgliche Arbeitnehmerüberwachung – Technikbasierte Beschäftigtenkontrolle als Gegenstand betrieblicher Mitbestimmung im digitalen Zeitalter“. Die voranschreitende Digitalisierung in Unternehmen stellt zweifelsohne eine enorme Herausforderung für die Betriebsparteien im Rahmen der Mitbestimmung dar. Krausepositioniert sich hier klar zum Regelungsgehalt von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG und gegen die Einführung einer Art Erheblichkeitsschwelle bei der Schwere der Überwachung. Eine solche war wiederholt gefordert worden, nachdem das BAG bereits das Führen einer Excelliste („Alltagssoftware“) zur Erfassung von Anwesenheitszeiten als mitbestimmungspflichtige Überwachungseinrichtung gem. § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG eingeordnet hatte (BAG vom 23.10.2018 – 1 ABN 36/18). Auch vertritt Krause aus meiner Sicht überzeugend die Auffassung, dass dem Betriebsrat auch im Rahmen von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht zur Einführung von Überwachungseinrichtungen zukommen kann, wenn damit bezweckt wird, den Schutz der Arbeitnehmer zu erhöhen (z.B. zur Arbeitszeiterfassung bei flexibler/mobiler Arbeit). Insgesamt greift der Beitrag viele wichtige Aspekte auf, die künftig in der immer weiter zunehmenden Diskussion zu Mitbestimmungsrechten und Digitalisierung zu berücksichtigen sein werden.
Die Herausgeber haben gemeinsam mit den zahlreichen Autoren zweifelsohne eine beachtliche Zusammenstellung hochinteressanter Beiträge vorgelegt, die durch wissenschaftliche Tiefe und hohe Relevanz überzeugen. Die vorliegende Festschrift ist damit deutlich mehr als ein Werk, das zur Ehre des BetrVG repräsentativ den Bücherschrank schmücken sollte. Vielmehr sind zahlreiche Beiträge geeignet, die Fortentwicklung des Betriebsverfassungsrechts mitzuprägen und fundierte Argumentationsgrundlagen zu schaffen, damit das BetrVG auch weitere Jahre eine herausragende Bedeutung in einer sich ändernden Arbeitswelt zukommt. Möchte man einen Kritikpunkt finden, wäre es aus meiner Sicht die etwas ungewöhnliche alphabetische Sortierung der Beiträge nach dem Namen der Autoren. Es wäre hier sicher möglich gewesen, eine gewisse thematische Sortierung vorzunehmen. Dies vermag allerdings keineswegs den überaus positiven Gesamteindruck zu schmälern.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, ein solches Werk der Wissenschaft ans Herz zu legen. Aber die vorliegende Festschrift kann auch uneingeschränkt der arbeitsrechtlichen Praxis empfohlen werden, da sich viele Anregungen für die tägliche Arbeit finden lassen und insbesondere den mit dem Betriebsverfassungsrecht befassten Praktikern wertvolle Argumentationshilfen bietet. Mit einiger Begeisterung kann ich daher eine uneingeschränkte Lektüre- und Kaufempfehlung aussprechen.