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Rezension: Tarifvertragsgesetz

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Wiedemann, Tarifvertragsgesetz, 8. Auflage, C.H. Beck 2019

Von Ass. iur. Fabian Bünnemann, LL.M., LL.M., Essen


Der in der Reihe „Beck’sche Kommentare zum Arbeitsrecht“ erscheinende Kommentar zum Tarifvertragsgesetz gehört zur absoluten Standardliteratur im deutschen Tarifvertragsrecht. Herausgegeben von Prof. Dr. Herbert Wiedemann, bearbeitet nunmehr allerdings von den Professoren Dr. Matthias Jacobs, Dr. Hartmut Oetker, Dr. Gregor Thüsing sowie Dr. Rolf Wank, ist das Werk geradezu ein Klassiker im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts.

Altersbedingt ist Wiedemann mit der nunmehr vorliegenden 8. Auflage aus dem Kreise der Autoren ausgeschieden, begleitet das Werk aber weiterhin. Neu hinzugestoßen ist dafür Jacobs, der die Kommentierung des neuen § 4a TVG übernommen sowie die Einleitung neu verfasst hat. Das Verstreichen von über zehn Jahren seit dem Erscheinen der Vorauflage bewegt sich zwar im Rahmen des bisherigen Erscheinungszyklus (die 1. Auflage erschien nota bene bereits im Jahr 1951), jedoch dreht sich in solch einem Zeitraum auch die Welt des Tarifrechts weiter. So wird das Erscheinen der Neuauflage Arbeitsrechtler erfreuen, insbesondere diejenigen, die regelmäßig mit Fragen des Tarifrechts befasst sind. Eingearbeitet wurden insbesondere der bereits erwähnte § 4a TVG (Tarifkollision) sowie die Änderungen des § 5 TVG (Allgemeinverbindlichkeit). Zudem konnten neue Entwicklungen in Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung eingepflegt und berücksichtigt werden, grundsätzlich bis zum 01.07.2018, hinsichtlich des neuen § 4a Abs. 2 S. 2 TVG n.F. gar noch darüber hinaus.

Das Werk folgt einem recht klassischen Aufbau. Dem Vorwort schließen sich zunächst Inhalts‑, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis an. Es folgen der Abdruck des Gesetzestextes, ein Abriss über die historische Genese des Tarifvertragsgesetzes und eine Darstellung der Grundlagen des Tarifrechts (Einleitung). Sodann folgt die eigentliche Kommentierung des TVG. Der Kommentierung angefügt ist zudem ein Anhang, der ergänzend weitere einschlägige Rechtsgrundlagen – teils auszugsweise – aus dem Bereich des Tarifrechts enthält, etwa die Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes (Anhang 1), die Europäische Sozialcharta (Anhang 2), die Europäische Grundrechtecharta (Anhang 5) sowie die Satzungen von BDA und DGB (Anhänge 9 und 10). Das Werk schließt mit einem umfassenden Sachverzeichnis.

Beachtenswert ist vor allem die Erstbearbeitung des § 4a TVG. Nach dieser Norm ist die Vermeidung von Tarifkollisionen dergestalt beabsichtigt, dass regelmäßig nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar sein sollen, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Der Leser wird von Jacobs hier in äußerst strukturierter Form durch die nicht einfachen und äußerst umstrittenen Regelungen der Vorschrift geleitet. Der Einleitung (§ 4a, Rn. 1 ff.), die der Darstellung der Grundzüge samt Auseinandersetzung mit verfassungsrechtlichen Bewertung des § 4a TVG dient, folgen Ausführungen zur Auflösung von Tarifkollisionen (§ 4a TVG, Rn. 71) sowie zu Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität im Allgemeinen (§ 4a, Rn. 475 ff.). Dabei lässt die Kommentierung wenig zu wünschen übrig. Vertieft habe ich mir die Ausführungen zu den Auswirkungen von § 4a TVG auf Arbeitskämpfe angesehen (§ 4a, Rn. 288 ff.). Zwar hieß es in der Begründung des Tarifeinheitsgesetzes noch, über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden solle, werde im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein (BT-Drs. 18/4062, S. 12). Die Literatur ist sich jedoch einig, dass § 4a TVG im Rahmen von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Untersagung eines Streiks wohl keinerlei praktische Relevanz zukommen wird. Ist die Mehrheitsfeststellung im Allgemeinen schon äußerst problembehaftet (so auch Jacobs, § 4a, Rn. 202), so gilt dies erst recht im einstweiligen Rechtsschutz. Denn gerade das Eilverfahren im Arbeitskampfrecht ist äußerst zeitkritisch. Jacobs ist daher zuzustimmen, wenn er nach fundierter Auseinandersetzung mit der Problematik schreibt, es sei „unklar, wie vor diesem Hintergrund ein Verfahren vor dem Notar zur Ermittlung der Mehrheit praktisch stattfinden“ solle (§ 4a, Rn. 291).

Auch die von Wank verfassten Ausführungen zum Verzicht auf tarifliche Rechte (§ 4 Abs. 4 S. 1 TVG) habe ich mit einigem Erkenntnisgewinn gelesen. Regelmäßig wiederkehrende Fragen etwa zum Umfang des Verzichtsverbots – Stichwort: Prozessvergleich (§ 4, Rn. 761 ff.) – werden hiermit gut zu lösen sein. So differenziert Wank zwischen zulässigem Tatsachen- und unzulässigem Rechtsvergleich und lässt zudem eine ausführliche Begründung für die so getroffene Einordnung nicht vermissen (§ 4, Rn. 767 ff.) – äußerst aufschlussreich und praxisrelevant.

Sehr spezifische Themen spart das Werk ebenso nicht aus. Ist man etwa regelmäßig mit den arbeitsrechtlichen Besonderheiten im öffentlichen Dienst oder – noch spezieller – denjenigen in der Sozialversicherung befasst, sind etwa die Ausführungen von Thüsing zum persönlichen Geltungsbereich und dort zur Erfassung von sog. „Dienstordnungs-Angestellten“ (oft auch kurz als „DO-Angestellte“ bezeichnet) sehr lesenswert. Oftmals unbekannt und wahrscheinlich in einigen Jahren fast vergessen, waren und sind DO-Angestellte Arbeitnehmer im Bereich der Sozialversicherung, deren Arbeitsverhältnis weitgehend dem Beamtenverhältnis angenähert ist. Sie sind mithin zwar einerseits privatrechtliche Arbeitnehmer, Rechte und Pflichten richten sich qua Dienstordnung aber maßgeblich dem Beamtenrecht. Durch diese Konstruktion – so Thüsing dem BAG folgend – kann indes nicht gefolgert werden, dass das Koalitionsrecht der Dienstordnungs-Angestellten nicht bestehe oder eingeschränkt werde (§ 1, Rn. 116). Dies korrespondiert auch mit der übrigen Rechtsprechung des BAG, das für Streitigkeiten aus dem Beschäftigungsverhältnis eines DO-Angestellten die sachliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichte annimmt. Denn: „DO-Angestellte der Sozialversicherungsträger sind trotz der weitgehend öffentlich-rechtl. Ausgestaltung ihrer Anstellungsverhältnisse weder Beamte noch haben sie sonst einen öffentlichrechtl. Status. Sie werden wie die übrigen Arbeitnehmer aufgrund eines privatrechtl. Arbeitsvertrages beschäftigt. Das ist entscheidend. Damit erweist sich ihr Dienstverhältnis zu ihrer Anstellungskörperschaft als ein solches bürgerlich-rechtl. Art“ (BAG, Urt. vom 25.5.1982 - 1 AZR 1073/79). Thüsingbeschäftigt sich sodann (§ 1, Rn. 117 ff.) eingehend mit der Rechtsnatur der Dienstordnung (Satzung), dem Arbeitnehmerstatus der DO-Angestellten (Arbeitnehmer) sowie dem Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Dienstordnung (Dienstordnung geht vor), was ich mit Interesse gelesen habe und, was selten so verständlich aufbereitet wird. Weitere für den Bereich des öffentlichen Dienstes relevante Passagen befassen sich etwa mit der Tariffähigkeit von öffentlich-rechtlichen Körperschaften (§ 2, Rn. 185) sowie von Vereinigungen öffentlich-rechtlicher verfasster Arbeitgeber (§ 2, Rn. 304 ff.) oder etwa der „Frage, ob öffentlich-rechtliche Körperschaften mit Zwangsmitgliedern (wie die Berufsgenossenschaften, Krankenkassen usw.) für ihre Arbeitnehmer Firmentarifverträge abschließen können“ (§ 2, Rn. 373).

Insgesamt betrachtet ist die Neuauflage des „Wiedemann“ ein großer Gewinn. Der Kommentar ist – von vier Professoren verfasst – selbstverständlich hinreichend wissenschaftlich fundiert und verfügt über einen großzügigen Fußnotenapparat. Gut gefällt mir insofern auch, dass die Autoren sich nicht nur strikt an der höchstrichterlichen Rechtsprechung orientieren, sondern auch ihre eigenen Ansichten darlegen und mit Argumenten untermauern. So schärft bspw. die Kritik von Jacobs an der BVerfG-Entscheidung zur Vereinbarkeit des Tarifeinheitsgesetzes das grundsätzliche Verständnis des § 4a TVG (§ 4a, Rn. 59 ff.). Gleichzeitig eignet sich der Kommentar aber auch wunderbar für die praktische Verwendung. So werden überaus viele verschiedene Fallkonstellationen behandelt, was in der Praxis äußerst hilfreich ist. Der mittlerweile schon zum Standard gehörende Fettdruck von Schlagworten sowie das äußerst lesefreundliche Schriftbild führen schließlich dazu, dass der Kommentar sich nicht nur zum Nachschlagen bestimmter Problemstellungen eignet, sondern auch zum Querlesen geradezu einlädt.

Mit der Neuauflage behauptet der „Wiedemann“ definitiv seinen Platz als absolutes Standardwerk zum TVG. Wer regelmäßig mit Fragen des Tarifrechts befasst ist, ob aus Arbeitnehmer- oder Arbeitgebersicht, ob in Anwaltschaft, Richterschaft, bei Verbänden oder Gewerkschaften, dem sei dringend empfohlen, diesem Werk einen prominenten Platz auf dem eigenen Schreibtisch zuzugestehen.


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