Vesting, Legal Theory, 1. Auflage, C.H. Beck 2018
Von Johann v. Pachelbel, Essen
Prof. Vesting hat nun die erste englischsprachige Auflage seines Buches zur Rechtstheorie veröffentlicht, welches 2015 in zweiter Auflage erschien. Herausgegeben ist das Druckwerk von Beck, Hart und Nomos in den gewohnt hochwertigen Materialien. Vesting selbst beschreibt sein Buch über Rechtstheorie als ein Studienbuch zur Begleitung von Vorlesungen zur Rechtstheorie. Das ist vielleicht ein wenig viel gewollt: Vesting stellt in seinem Buch die Rechtstheorie nicht bloß erklärend da, sondern verwendet einen größeren Teil seines Buches zur eigenen Positionierung und zur Formung einer eigenen Rechtstheorie. Das geschieht notwendigerweise auf einem recht hohen intellektuellen Niveau. Ob hier der Jurastudent in allen Teilen mithalten kann, ist fraglich. Der Rezensent sieht die Rechtstheorie von Vesting eher als ein Buch für Fortgeschrittene, denen die Grundbegriffe und Grundgedanken der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie nicht fremd sind, und empfiehlt zur Einführung in die Rechtstheorie und zur Begleitung erster Vorlesungen Lehrbücher, die das Darstellende und Erklärende mehr in den Vordergrund stellen.
Nun aber zur vorliegenden Publikation. Sie ist von der ersten Seite an eine geführte Reise durch Vestings rechtstheoretisches Gedankengerüst. Nachdem Vesting im ersten Kapitel den Zweck der Rechtstheorie und einige Begrifflichkeiten klärt, die für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen unentbehrlich sind, führt er ab dem zweiten Kapitel seine Theorie des Rechts auf knapp 180 Seiten aus. Seinen Ausgangspunkt nimmt er bei der Rechtsnorm als solche. Er unterscheidet Rechtsnormen von anderen Normen. Er erklärt Rechtsnormen als Bestimmungssätze und schließt an die kelsenianische Unterscheidung von Sein und Sollen an. Er weist Rechtsnormen mit Luhmann einen normativen objektiven Gehalt zu, der nicht davon abhängt, dass dieser Gehalt in der Realität zuweilen enttäuscht wird. Ein spannender Ausflug wird mit einem Überblick über Sprachphilosophie gemacht, bei dem einige aktuelle Denkrichtungen aufgezeigt werden. Sodann verknüpft Vesting Rechtstheorie mit der Luhmann’schen Systemtheorie. Vesting bekennt sich hier zu einer stark von soziologischen Erkenntnissen geprägten Rechtstheorie, die sich von der sozialen Realität nicht trennen kann. Hier löst sich Vesting auch von der kelsenianisch hierarchisch pyramidalen Struktur des Rechts und hält es mit Luhmann, indem er eine pluralistische heterarchische Struktur des Rechts aufzeigt.
Vesting argumentiert für eine autonome Rechtstheorie, die abseits anderer wissenschaftlicher Disziplinen formuliert werden kann, öffnet aber die Rechtstheorie dennoch für politische und soziologische Gedankensysteme. Ein wenig Frische in die zuweilen angestaubten rechtstheoretischen Gedanken bringen Ausführungen zu den Medien wie der Sprache oder dem Buchdruck, aber auch Ausführungen zur „Computerkultur“ und ihren Einfluss auf Gesellschaft und Recht.
Im Kapitel zur Gültigkeit von Rechtsnormen kommt der selbst attribuierte Anspruch, ein Lehrbuch zu sein, ein wenig mehr zur Geltung. Es werden die verschiedenen Begründungen für Recht mit einem Fokus auf Naturrecht und positives Recht abgearbeitet, sodass am Ende des Kapitels ein gewisser Überblick entstanden ist. Erfrischend ist die Abkehr von der absatzweisen Besprechung jedes Rechtsphilosophen in den letzten 2000 Jahren. Vesting orientiert sich an nur wenigen Personen. Aristoteles, Kant, Max Weber, Kelsen und Luhmann sind die Denker, an denen Vesting sich entlanghangelt.
Vesting präsentiert in den letzten Kapiteln zur Normengültigkeit, der Rechtsauslegung und letzten Kapitel, in dem er seine Rechtstheorie mit der Rechtssoziologie Max Webers und Aspekten der Medientheorie verknüpft, seine eigene Anschauung der Rechtstheorie. Im Ergebnis ist diese stark rechtssoziologisch geprägt, Vesting stellt sich damit in die Reihe von Max Weber und Luhmann.
Lesenswert ist die Reise durch Vestings Rechtstheorie allemal. Sie erfordert zwar einen gewissen Bodensatz an begrifflichem Verständnis und rechtsphilosophischer Allgemeinbildung, vermittelt dann jedoch einen großen Fundus an fortgeschrittenem Wissen. Horizonterweiternd sind Vestings Ausführungen zur Rechtsphilosophie Hegels und Kants sowie zur reinen Rechtslehre von Hans Kelsen. Großes Verständnis schaffend sind sodann die rechtssoziologischen Verknüpfungen. Vesting gelingt es, auf eine verständnisvolle Art und Weise in die Systemtheorie Niklas Luhmanns einzuführen.
Leider ist das Arrangement der verschiedenen Textbausteine ein wenig verwirrend geraten. An einigen Stellen wirken die Kapitel unzusammenhängend und ohne den klaren roten Faden, den ein Student, der noch keine große Orientierung in der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie hat, braucht. Diese Verknüpfungen für das eigene Verständnis herzustellen, kostete den Rezensenten, durchaus Kraft. Dies mag jedoch auch an seiner nur rudimentären rechtstheoretischen Vorbildung liegen.
Nun hat Vesting seine Rechtstheorie in dieser Publikation ja auf englischer Sprache veröffentlicht. Warum die Rechtstheorie auf Englisch lesen, wenn man einfach zu Vestings deutschsprachiger Ausgabe greifen könnte? Die Antwort hierauf liegt auf der Hand: Es ist hochinteressant, Gedanken, die man vielleicht in den Grundzügen schon kennt, einmal in einer anderen Sprache zu studieren. Das Englisch dieser Ausgabe ist kristallklar und nicht verschnörkelt oder übermäßig verkompliziert. Zuweilen werden bestimmte Begriffe von Vesting in Klammern auch auf deutscher Sprache genannt, um deren Symbolwirkung in der deutschen Rechtssprache zu verdeutlichen. Dazu kommt eines: Recht ist Sprache, Sprache prägt das Recht. Rechtstheorie durch ein anderes Medium zu erlernen, nämlich eine andere Sprache, schafft neue Perspektiven auf die gleiche Materie und ist daher horizonterweiternd.
Dem fortgeschrittenen Studenten der Rechtstheorie, der sich für die persönlichen rechtstheoretischen Auffassungen von Prof. Vesting oder eine sehr von rechtsoziologischen Gedanken geprägte Rechtstheorie interessiert und dies auf englischer Sprache studieren möchte, sei für dieses Buch wärmstens eine Leseempfehlung ausgesprochen.