Wolf / Neuner, Allgemeiner Teils des Bürgerlichen Rechts, 11. Auflage. C.H. Beck 2016
Von cand. iur. Andreas Seidel, Göttingen
Wenn ein Lehrbuch zum allgemeinen Teil des bürgerlichen Rechts mit 700 Seiten und bereits in elfter Auflage erscheint, scheinen schon die äußeren Umstände für das Prädikat „Klassiker“ zu sprechen. Autor dieses „Klassikers“ ist seit 2012 der Augsburger Zivilrechtsprofessor Dr. Jörg Neuner, der das von Prof. Dr. Karl Larenz begründete Werk von dem bereits verstorbenen Prof. Dr. Manfred Wolfübernommen hat. In diesem Jahr ist die zweite Auflage erschienen, die Neunerverfasst hat, in der es den Anschein erweckt, als hätte der Autor eine gewisse Kontinuität gefunden. Im Gegensatz hierzu stand die zehnte Auflage, die zwar die Vorauflagen von Larenz und Wolf berücksichtigte, jedoch im Wesentlichen neu geschrieben wurde. Nachdem hierdurch der Grundstein für die Arbeit gelegt war, konnte die Neuauflage 2016 vor allem zur Aktualisierung genutzt werden. Darüber hinaus fand eine dogmatische Fortentwicklung statt, für die sicherlich beim Verfassen der Vorauflage die Zeit gefehlt haben dürfte. Als großes Plus erweist sich auch das neue Kapitel zum Persönlichkeitsrecht (§ 13).
Bei einem Lehrbuch mit 700 Seiten stellt sich schnell die Frage nach der Daseinsberechtigung, auch wenn diese in Bezug auf den Wolf/Neuner (vormals Larenz/Wolf) aufgrund des großen Erfolgs und der weiten Verbreitung eher häretisch klingt. Trotzdem mag sich mancher an dieser Stelle fragen, warum andere Lehrbücher zum BGB AT mit der Hälfte des Platzes auskommen und dieser Umstand gerade angesichts der Verortung dieses Rechtsgebietes im ersten Semester des Studiums für manchen Rezipienten eher als Zumutung denn als akademisches Feuerwerk erscheint. Auch wenn diese ausführliche Darstellung für Erstsemester zumeist noch eine Überforderung darstellen dürfte, erschließt sich dieses Werk mit der Zeit. Dabei fällt auf, dass es eines der wenigen Lehrbücher ist, die von Kommentar- und Monographieliteratur zitiert wird, wobei der geneigte Leser, der bereits Erfahrungen mit einer der zahlreichen Vorauflagen gesammelt hat, diese Frage leicht beantworten kann: Vor allem die saubere dogmatische Arbeit bereitet beim Lesen und Nachvollziehen Freude, dies kann bei Darstellungen über nur 350 Seiten nicht in dieser Detailtiefe verlangt werden. Insbesondere wird diese Akribie der Dogmatik auch in Randgebieten durchgehalten, die anderenorts eher stiefmütterlich behandelt werden. Hier sei pars pro toto das Vereinsrecht hervorzuheben, das zumindest im Pflichtfachstudium eher eine unterordnete Rolle spielt, hier jedoch in 144 Randnummern dargestellt werden kann. Wo andere Autoren etwa im Rahmen der Organhaftung nach § 31 BGB lediglich einen kurzen Hinweis darauf geben, dass diese Norm eine Haftungszurechnung darstellt (wobei allein dies zu bezweifeln ist bzw. zumindest hierüber ein Meinungsstreit geführt wird) und zuweilen noch, wie der BGH den Begriff des verfassungsmäßig berufenen Vertreters ausweitet (Stichwort Repräsentantenhaftung), erläutert Neunerausgehend von Abgrenzungsfragen (§ 17 Rn. 69 ff.) die einzelnen Tatbestandsmerkmale, wobei die eigentliche Bedeutung der Norm und die (zum Teil auch weniger bekannten) Streitstände wie dem Umgang mit Unterlassen des Organs (§ 17 Rn. 73) oder die Frage nach der Anspruchskonkurrenz zwischen Ansprüchen gegen den Verein und gegen das Organ (§ 17 Rn. 78 f.) dargelegt werden. Diese Ausführlichkeit, die auch Randgebiete in das Zentrum rücken und dogmatische Erklärungsversuche unternehmen kann, vermag nur ein derart umfangreiches Lehrbuch, worin der große Vorteil des Wolf/Neuner zu sehen ist.
Über das Beispiel des Vereinsrechts hinaus ist auch das Persönlichkeitsrecht ein Thema, dessen Darstellung leider häufig hinter seiner Bedeutung und seinem Umfang zurückbleibt. Dies resultiert wohl daraus, dass es zwar eigentlich im allgemeinen Teil des bürgerlichen Rechts verortet werden muss, die größte Auswirkung jedoch in § 823 Abs. 1 BGB und im quasi-negatorischen Unterlassungsanspruch liegen dürfte und die umfangreiche Erläuterung dem „Zuständigkeitsstreit“ zum Opfer fällt – wie auch in diesem Lehrbuch bis zu der vorliegenden Auflage. Deshalb freut es umso mehr, dass nunmehr ein eigenes Kapitel geschaffen wurde, in dem eine ausreichende Differenzierung stattfindet und die gebotene Einführung von Fallgruppen, die in der zivilrechtlichen Kommentarliteratur (und der verfassungsrechtlichen Ausbildungsliteratur) längst Einzug erhalten hat. Darüber hinaus wird die Darstellung logisch aufgebaut, sodass das Erlernte auch mit deliktischen Strukturen verknüpft werden kann.
Zusammenzufassend hat der Wolf/Neuner das Prädikat eines echten Klassikers zu Recht verdient! Zwar macht der Umfang von 700 Seiten das Buch für die meisten Jurastudenten im ersten Semester zu einer großen Herausforderung, der sich die meisten wohl nicht stellen werden. Jedoch gewinnt das Werk mit wachsendem juristischem Verständnis an Charme und Nutzen. Auch wenn die dogmatischen Erwägungen beim ersten Kontakt mit dem allgemeinen Teil des BGB noch verborgen bleiben, so erschließt es sich in seiner Gänze dem fortgeschrittenen Juristen, der nicht nur im Vorbeigehen an einem Streitstand, sondern vielmehr auch an der Herleitung und der systematische Verortung interessiert ist.